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Rabenvieh (German Edition)

Rabenvieh (German Edition)

Titel: Rabenvieh (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Anhofer
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nicht auffliegen würde.
    Mittlerweile hatte ich mir schon einige Tage im Krankenhaus rausgeschunden, als mich der Stationsarzt eines Tages nach der Visite in den Behandlungsraum rief. Er bat mich, mich auf die Behandlungsliege zu legen und meinen Oberschenkel freizumachen. Ich mochte diesen Arzt. Er war jüngeren Alters, war immer sehr nett zu mir und er hatte zudem noch eine sehr ruhige Art, die wie Balsam für meine Seele war. Während des Verbandwechselns plauderte er mit mir über alles Mögliche. Er brachte mich das eine oder andere Mal sogar zum Lachen. Ich dachte, dass ich nach dem Verbandswechsel gehen könnte, aber da irrte ich. Ich setzte mich auf und zog mich wieder an. Er nahm auf seinem Stuhl Platz. Ich wollte mich schon verabschieden, als er mich bat, noch einen kurzen Augenblick zu warten. Ich setzte mich wieder auf die Liege und sah ihn fragend an. »Ist bei dir Hause alles in Ordnung?«, fragte er mich. Nervosität machte sich breit, denn mit einer derartigen Frage hatte ich in keiner Weise gerechnet, demzufolge war ich auch völlig überfordert. Und nun sollte ich binnen Sekunden auch noch eine Antwort darauf geben. Was sollte ich sagen? Ich hatte bereits jegliches Vertrauen in die Menschheit verloren. Selbst die Sozialarbeiterin, die die Macht hatte, mich aus den Fängen dieser Familie zu befreien, unternahm nichts. Also warum sollte sich ausgerechnet jetzt etwas ändern, wenn ich mich diesem Arzt anvertrauen würde? Ich mochte ihn zwar, aber das änderte nichts an meiner Überzeugung, dass mir niemand helfen konnte.
    »Es gefällt mir bei meinen Pflegeeltern«, gab ich schließlich als Antwort und senkte schnell meinen Kopf, damit er an meinen Augen nicht ablesen konnte, dass das eine Lüge war. Stille war im Raum und ich spürte, dass er mir meine Antwort nicht abkaufte. Ich saß auf dieser Liege, baumelte mit meinen Füßen nervös auf und ab und mit leicht schielendem Blick nach oben konnte ich sehen, wie er mich beobachtete. Diese Stille in Kombination mit seinen Beobachtungen machte mich verrückt und ich hoffte jede Sekunde er würde sagen, dass ich gehen könnte.
    »Ich habe deine Pflegeeltern nicht ein einziges Mal in diesen Wochen zu Gesicht bekommen«, meinte er.
    »Ich weiß, sie haben viel zu tun und deshalb keine Zeit, um mich zu besuchen, aber das macht mir nichts«, gab ich wie aus der Pistole geschossen als Antwort.
    Wieder minutenlanges Schweigen.
    »Deine Wundheilung ist uns ein Rätsel. Kann es sein, dass du für diesen Zustand selbst verantwortlich bist?«
    Ich erstarrte. Ich wusste nicht, ob ich wegrennen oder darauf hoffen sollte, dass sich der Boden unter mir auftut. »Ich würde mich nie selbst verletzen«, gab ich als Antwort und neigte meinen Blick schnell wieder nach unten. Aufgrund meines Verhaltens war es für ihn ein Leichtes zu erkennen, dass auch das gelogen war.
    »Was ist mit deinen Narben an deinem Köper und mit deiner Wunde am Kopf? Wie sind diese zustande gekommen?«
    Verdammt, ich wollte in Ruhe gelassen werden und nicht Rede und Antwort stehen. Es konnte mir ohnehin niemand helfen. Meine Wunde am Kopf verdeckte ich so gut es ging mit meinen Haaren. Sie war noch relativ frisch und war die Folge, dass ich einige Tage vor meinem Krankenhausaufenthalt bei Schlägen über die Vorzimmerstiege fliehen konnte, dabei ausrutschte und mit dem Hinterkopf auf die Kante der Steinfliesen prallte. Für meine Narben gab ich den Grund an, dass ich schon von jeher sehr tollpatschig gewesen wäre und mir beim Spielen immer wieder Verletzungen hinzugezogen hätte. Seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass er mir nichts von alldem, was ich ihm auftischte, abkaufte. Er ließ es sich nicht nehmen, immer weiter nachzubohren und ich hatte zunehmend alle Mühe, mich nicht in meinen Ausreden zu verstricken. Meine Fassade begann langsam zu bröckeln. Auf seine weiteren Fragen gab ich deshalb keine Antworten mehr. Es verstrichen abermals Minuten des beiderseitigen Schweigens. Um mich endlich aus dieser misslichen Lage befreien zu können, sagte ich ihm mehrmals hintereinander: »Es ist bei mir zu Hause alles in Ordnung. Ich fühle mich bei meinen Pflegeeltern gut aufgehoben. Wirklich!« Ich siegte. Er gab letztendlich auf.
    Es dürfte ihm wohl klargeworden sein, dass aus mir nichts mehr rauszubringen war.
    Zwei Tage nach dem Gespräch mit dem Stationsarzt wurde ich nach Hause entlassen. Zumindest hatte ich mir mit meinem Selbstverstümmelungsversuch weitere acht Tage

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