Rabenvieh (German Edition)
Misshandlungen zu Hause erspart. Die Narbe, die ich heute noch habe, Jahre danach, werde ich wie alle anderen Narben auch, den Rest meines Lebens tragen.
Das Treffen
Die zuständige Sozialarbeiterin ließ sich seit meinem Besuch bei ihr kein einziges Mal mehr zu Hause blicken – zumindest habe ich sie nie mehr zu Gesicht bekommen.
Bis zu meiner Volljährigkeit trennten mich nur noch wenige Monate. Tage, an denen es keine Demütigungen und Misshandlungen gab, waren nach wie vor äußerst rar.
Ich konnte es kaum noch erwarten, in wenigen Monaten diesen schrecklichen Ort ein für alle Mal hinter mir lassen zu können. An meinen freien Tagen, an denen ich weder Schule hatte, noch arbeiten musste, fuhr ich nach Graz, um mir Wohnungen anzusehen. Zu Hause log ich für diesen Zweck jedes Mal, da ich nicht wollte, dass jemand etwas von meinem Vorhaben bemerkte und mir jemand einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Eine Bleibe zu finden, die ich mit meinem kleinen Geldbeutel auch finanzieren könnte, war alles andere als einfach. Ich sah mir unzählige freie Wohnungen an, aber keine davon war für mich nur annähernd erschwinglich. Letztendlich klappte es mit einer kleinen Einzimmerwohnung inmitten von Graz. Eine Wohnung mit gerade einmal fünfundzwanzig Quadratmetern, die aus einer Kochnische, Dusche und einem kleinen Zimmer bestand. Die Toilette war im Gang, die ich mit zwei älteren Damen teilen musste, was mich aber in keiner Weise störte. Das zweistöckige Haus war mehr als nur renovierungsbedürftig. Nicht nur von außen machte es einen völlig heruntergekommenen Eindruck. Die Wohnung stand seit Langem leer, da sich kein Nachmieter unter diesen Bedingungen mehr finden ließ. Alle anderen Wohnungen waren ausschließlich mit alten Leuten bewohnt, die nicht mehr willens waren, sich in ihrem fortgeschrittenem Alter noch eine neue Bleibe zu suchen. Außerdem waren die monatlichen Mietkosten aufgrund des desolaten Zustands sehr niedrig gehalten. Mich störte dieser heruntergekommene Zustand des Hauses nicht, denn für mich war schließlich alles besser, als das, was ich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten bewohnt hatte.
Bereits ein ganzes Jahr davor begann ich die Tage zu zählen. Wie ein Häftling in seiner Zelle strich ich die noch übrigen Tage, die ich zu Hause noch verbringen musste, von einem Zettel.
Lange Zeit nahm ich mir vor, meinen Pflegeeltern bei meinem Fortgehen an den Kopf zu werfen, wie sehr ich sie verabscheuen würde und dass ich ihnen alles wünschte, nur nicht ein erfülltes Leben. Das wäre mir sogar noch ein letztes Mal die schlimmsten Misshandlungen Wert gewesen. Letztendlich ließ ich es aber bleiben, weil selbst Hass zu wenig Ausdruck dafür gewesen wäre, was ich für sie empfand.
Draußen war es noch dunkel – mein Wecker läutete. Ich nahm die Taschen und kleinen Plastiksäcke, in die ich am Abend zuvor meine Klamotten und die wenigen Habseligkeiten, die ich sonst noch besaß, hineinstopfte und schlich mich damit aus dem Haus. Vollbepackt ging ich damit zur nächsten Bushaltestelle und rief mir von der Telefonzelle dort ein Taxi. Während ich auf das Taxi wartete, betrachtete ich von Weitem das Haus, indem ich meiner Kindheit beraubt wurde und man aus mir einen seelischen Krüppel gemacht hatte. Abermals kam grenzenloser Hass in mir hoch und ich stellte mir vor, wie es wäre, dieses Haus mit samt seinen Hausbesitzern abzufackeln. In meinem Geiste sah ich das Haus lichterloh in Flammen aufgehen. Wie meine Pflegeeltern Hilfe schreiend im Haus umherliefen und gegen Fensterscheiben und Türen hämmerten, um der Flammenhölle zu entkommen. Doch die Chance, zu entkommen, die nahm ich ihnen, denn ich schloss alle Fenster und Türen und verbarrikadierte diese zusätzlich mit allen möglichen Gegenständen. Ich sperrte sie ein, so, wie sie es mit mir taten.
Der Taxifahrer, ein junger gut aussehender Mann kam und löste mich in meinen Gedanken ab. Er brachte mich an meine Wohnadresse und half mir noch, das Gepäck in die Wohnung zu tragen. Ich hatte alles perfekt organisiert. Darauf war ich wirklich stolz, denn schließlich musste ich alles in geheimer Mission erledigen. Der Strom, den ich wenige Tage zuvor angemeldet hatte, war bereits an und auch mein Telefon war früher als gedacht schon angeschlossen.
Alles, was noch fehlte, war mein Sofa, das mir in den nächsten Tagen von der Möbelfirma zugestellt werden sollte. Bis dahin schlief ich einfach auf dem Fußboden. Kaum war der
Weitere Kostenlose Bücher