Rabenzauber
gleichmütig. »Wir Reisenden existieren nur, um zu verhindern, dass die Solsenti für einen Fehler zahlen müssen, den sie nicht selbst begangen haben.«
»Welchen Fehler?«, fragte Benroln erbost, aber Seraph sah seinen berechnenden Blick. Er versuchte, seine Zuhörer auszuhorchen. »Eine Geschichte, die uns die alten Leute erzählen? Es ist nur eine Geschichte - und sie war schon alt, bevor der Schatten fiel. Es ist ein Mythos und nicht beweisbarer als der Unsinn, den die Solsenti über die Götter verbreiten. Es gibt keine Götter, und es gab nie eine verlorene Stadt. Es gibt keinen bösen Pirschgänger. Wir haben wieder und wieder für ein Verbrechen bezahlt, das in einer Bardengeschichte begangen wurde. Wenn wir nicht klüger werden, werden wir bald nichts weiter als das Lied eines Solsenti -Bänkelsängers sein, etwas, womit man kleine Kinder erschreckt.«
»Klüger werden und was tun?«, fragte Seraph.
»Überleben«, antwortete er. »Wir brauchen Essen und Kleidung. Wir müssen den Solsenti beibringen, uns in Ruhe zu lassen - so, wie du es mit diesem Solsenti -Mistkerl gemacht hast, der versucht hat, Hennea wehzutun.« Er hielt inne, dann fuhr er leiser fort: »Du hast diesen Mann und seine Söhne gelehrt, uns in Ruhe zu lassen. Wenn du außerdem noch deinem Adler erlaubt hättest, sie anzufassen, hätten die anderen Solsenti aus seiner Gruppe die Geschichte ins Dorf zurückgetragen, und sie hätten alle vor Angst gezittert.«
»Vielleicht taten das einige ohnehin«, sagte Seraph kühl. »Und vielleicht haben die Leute mich und meinen Bruder, als wir vor Jahren in dieses Dorf kamen, ja genau wegen solcher Ängste nicht willkommen geheißen, sondern meinen Bruder verbrannt.«
»Die Solsenti fürchten uns bereits, das ist das Problem«, fuhr Hennea fort. »Angst führt zu Gewalttätigkeit. Die Dorfleute, die Seraphs Bruder töteten, hatten schreckliche Angst und waren zu ignorant, um zu wissen, dass sie von einem Reisenden nichts zu befürchten hatten. Vielleicht ist das ja deshalb so, weil wir ihnen in den letzten paar Generationen beigebracht haben, uns zu fürchten.«
»Quatsch«, sagte Benroln knapp, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Seraph zuwandte. »Du hast wie lange unter ihnen gelebt?« Er warf einen Blick auf Jes und Lehr und kam zu einer ziemlich akkuraten Schätzung. »Zwanzig Jahre oder mehr? Du klingst beinahe wie eine von ihnen - oder noch schlimmer, eine der Alten, die am Feuer sitzen und sagen: ›Es ist unsere Aufgabe, sie zu schützen.‹« Der Zorn in seiner Stimme war nun echt. »Sollen sie doch auf sich selbst aufpassen! Sie haben ihre eigenen Zauberer.«
»Die hilflos sind gegen das Böse, das wir bekämpfen«, erwiderte Seraph.
Benroln verzog höhnisch den Mund. »Als Solsenti -Soldaten meinen Vater, unseren Jäger und den Raben allein erwischten, konnten wir nichts anderes tun, als sie zu beerdigen. Wenn mein Vater nicht an die alten Märchen geglaubt hätte, hätte er diesem Dorf zeigen können, was es bedeutet, einem Reisenden wehzutun. Als diese Dorfleute deinen Bruder töteten, hättest du ihn retten können. Du hättest ihnen solche Angst einjagen können, dass sie nicht mehr im Traum daran denken würden, einem von uns zu schaden. Wie viele von uns sind gestorben, weil du andere Solsenti nicht ebenso belehrt hast wie diesen Mann heute? Wie viele weitere werden sterben, weil du ihnen nicht deinen Adler auf den Hals gehetzt hast, statt sie von einem nicht existierenden Fluch zu überzeugen?«
Ein Teil von Seraph wollte ihm zustimmen. Ein Teil von ihr hatte das Dorf tatsächlich niederbrennen wollen. Sie hatte den größten Teil jener ersten Nacht an Tiers Seite damit verbracht, sich zu fragen, wie lange es dauern würde, um ins Dorf zurückzukehren und ihren Bruder zu rächen.
Sie hätte sie alle umbringen können.
»Dein Vater wurde getötet?«, fragte Hennea leise, berührte Benrolns Arm mitleidig und lenkte ihn so von Seraph ab.
Er nickte, und sein Zorn verschwand angesichts von Henneas Anteilnahme. »Unser Fährtenleser brachte uns zur Burg des Sept von Arvill. Mein Vater sagte, sie würden niemals einen ganzen Clan einlassen, also nahm er, der Rabe war, unseren anderen Raben - meinen Vetter Kiris, einen Fünfzehnjährigen - und unseren Jäger, um zur Burg zu gehen. Sie schafften es nicht einmal bis zum Tor, bevor sie in einen Hinterhalt gerieten.«
»Schrecklich«, stimmte Seraph zu. »Wenn ich mich an dieses Dorf erinnere, in dem mein Bruder umgebracht
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