Rabenzauber
sein würde, aber er wollte freundlich sein -, aber dann sah er sie an und schloss den Mund wieder.
Sie war so jung, selbst wenn sie sich wie eine Kaiserin hielt. Ihre Haut war grau vor Erschöpfung, und ihre Augen sahen geschwollen und rot aus, weil sie wahrscheinlich geweint hatte, während er geschlafen hatte. Er beschloss, sich nicht mit ihr zu streiten - und selbstverständlich trotzdem nicht zu glauben, was sie sagte, obwohl es ihm eine Gänsehaut
verursachte. Er konnte einfach nur gut mit Menschen umgehen, das war alles. Ja, er konnte singen, aber das traf auf die meisten Rederni zu. Er war kein Magier.
Er überließ sie ihren Spekulationen und begann, das Lager abzuschlagen. Falls Wresens Pferd zum Gasthaus zurücklief, würden die Leute vielleicht bald nach ihm suchen. Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und half ihm.
»Ich werde Euch in Redern zu meinen Verwandten bringen«, sagte er, als das Lager abgeschlagen und Scheck wieder im Geschirr war. »Aber Ihr müsst mir versprechen, keine Magie zu wirken, solange Ihr dort seid. Meine Leute sind so misstrauisch, wie man es in der Nähe von Schattenfall erwarten würde. Redern ist ein Handelsort; wenn es irgendwo in der Nähe einen Reisendenclan gibt, werden wir davon hören.«
Aber sie schien nicht zuzuhören. Stattdessen sagte sie, nachdem sie auf Schecks Rücken geklettert war: »Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich werde es niemandem sagen.«
»Was sagen?«, fragte er und führte das Pferd wieder zurück auf den Weg, den sie am Vorabend genommen hatten.
»Dass jemand in Eurer Familie, ganz gleich wie lange es zurückliegen mag, sich zu einem Reisenden gelegt hat. Nur jemand von Reisendenblut kann Barde sein«, sagte sie. »Es gibt keine Solsenti -Barden.«
Langsam fing er an, sich darüber zu ärgern, wie sie Solsenti sagte, was immer dieses Wort bedeuten mochte. Er hätte wetten können, dass es sich um eine tödliche Beleidigung handelte.
»Ich werde es niemandem sagen«, wiederholte sie. »Ein Reisender zu sein ist nicht gesund.«
Sie blickte auf zu den Bergen, die über dem schmalen Weg aufragten, und schauderte.
In der Nähe von Schattenfall gab es nicht so viele Diebe wie im Osten, wo der Krieg die Menschen von ihrem Land vertrieben hatte. Aber Konex der Hausierer, der die Leiche neben dem Weg fand, war nicht gerade ehrlich. Er nahm alles von Wert, was er finden konnte: zwei gute Stiefel, einen Bogen, ein versengtes Schwert, an dem immer noch Hautreste hingen (das hätte er beinahe liegen lassen, aber am Ende siegte seine Gier über die Empfindlichkeit), einen Gürtel und einen Silberring mit einem kleinen Onyx darin.
Zwei Wochen später begegnete ihm auf der Straße ein Fremder, wie es manchmal geschieht, wenn zwei Personen das gleiche Ziel haben. Sie verbrachten den größten Teil des Tages damit, Neuigkeiten auszutauschen, und aßen an diesem Abend zusammen. Am nächsten Morgen ritt der Fremde allein weiter, einen Silberring in seinem Beutel.
Konex würde nie wieder hausieren gehen.
2
» S iehst du diese beiden Berge dort drüben?« Tier wies mit dem Kinn zu zwei felsigen Gipfeln, die aussahen, als wichen sie voneinander weg.
Seraph nickte. Nach mehreren Tagen unterwegs kannte sie Tier gut genug, um zu wissen, dass jetzt eine neue Geschichte kommen würde, und sie irrte sich nicht.
Tier war ein guter Reisebegleiter, dachte sie, als sie mit halbem Ohr seiner Geschichte lauschte. Besser, als ihr Bruder Ushireh einer gewesen war. Er hatte meistens gute Laune und erledigte viel mehr als seinen Anteil an der Arbeit im Lager. Er erwartete auch nicht, dass sie selbst viel sprach, was ihr ebenfalls gut passte, denn Seraph hatte nicht viel zu sagen - und seine Geschichten gefielen ihr.
Sie wusste, sie sollte sich überlegen, was sie tun würde, wenn sie erst Tiers Dorf erreichten. Wenn sie einen anderen Clan fand, würde der sie nicht nur deshalb aufnehmen, weil sie eine Reisende war, sondern vor allem, weil sie als Rabe eine wertvolle Ergänzung darstellte.
Wenn Ushireh nicht so stolz gewesen wäre, hätten sie sich längst einem anderen Clan angeschlossen, nachdem ihr eigener gestorben war. Aber Ushireh hatte keine magische Weisung, die ihm Einfluss verlieh, und er wäre nicht mehr der Sohn des Clanoberhaupts gewesen, sondern nur noch ein unbedeutendes Mitglied. Da Seraph selbst ebenfalls stolz war, hatte sie seinen Zwiespalt verstanden. Sie hatte zugestimmt,
dass sie erst einmal weiterziehen und sehen sollten, wohin die Straße sie
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