Rabenzauber
schaden.«
»Wir haben dich gerettet«, erklärte Jes, der plötzlich sehr zufrieden mit sich war. »Und dir geht es besser, und wir sind auf dem Heimweg. Rinnie wird froh sein, uns wiederzusehen. Ich hätte nicht bei Tante Alinath bleiben wollen.«
»Eure Tante ist ein guter Mensch«, mahnte Tier. Seine Schwester fühlte sich Jes gegenüber unbehaglich, weil sie ihn so seltsam fand, und deshalb behandelte sie seinen Ältesten falsch. Dennoch, Alinath war seine Schwester, und er liebte sie.
Jes reckte störrisch das Kinn. »Sie ist rechthaberisch und unhöflich.«
»Wie Mutter«, warf Lehr mit diesem sonnigen Lächeln ein, das er viel zu selten aufsetzte.
»Mutter ist Rabe«, sagte Jes, als könne das all ihre Fehler entschuldigen und erklären - was, wie Tier dachte, tatsächlich überwiegend zutraf. »Und sie ist nur Dummköpfen gegenüber unhöflich.«
Lehr lachte. »Das trifft allerdings auf die meisten Leute zu, denen sie begegnet.«
Tier schüttelte den Kopf. »Gewöhnlich ist sie nicht unhöflich, sondern nur einschüchternd.«
»Wenn du das sagst«, meinte Lehr. »Sollten wir nicht mit jemandem um Getreide feilschen? Oder wollen wir den
ganzen Tag hier stehen bleiben und tratschen wie alte Weiber?«
Jes grinste schüchtern und zog den Kopf ein wenig ein. »Papa wird feilschen, und wir beide können zusehen. Ich sehe Papa gerne zu.«
»Also gut. Denk nur daran, Reisende nicht zu erwähnen, ehe Papa das tut.«
Tier trieb Scheck wieder an, diesmal mit einer Gewichtsverlagerung und einem Zungenschnalzen. Der braun-weiße Wallach machte sich mit seinen üblichen weichen Bewegungen auf den Weg.
In dem Dorf, zu dem Benroln sie geschickt hatte, gab es drei Häuser, die Schmiede, eine Töpferwerkstatt und eine Handvoll kleinerer Gebäude. Aber als Lehr an der Töpferwerkstatt anklopfte, kam niemand heraus, und niemand reagierte auf seinen Ruf. Er öffnete die Tür und spähte kurz hinein.
»Niemand da.«
Also gingen sie zum nächsten Gebäude.
Die Schmiede war eine Hütte mit drei Wänden, die nach vorne hin offen lag, und sie schien ebenso leer zu sein wie die Töpferwerkstatt. Tier zog das Bein über Schecks Rücken und rutschte - langsam, um seine Knie zu schonen - vom Pferd. Er ließ die Zügel des Wallachs fallen und hinkte zu dem Gebäude, flankiert von seinen Söhnen.
In der Schmiede hingen die Werkzeuge ordentlich an der Wand, und auf dem Boden neben der Esse lagen Metallstücke, als hätte jemand sie gerade erst fallen gelassen. Tier hielt die Hand über die Kohlen, dann berührte er sie vorsichtig, aber es war nicht einmal eine Erinnerung an das Feuer geblieben.
»Was kannst du feststellen, Lehr?«, fragte er seinen jüngeren Sohn. »Wie lange sind sie schon weg?«
Selbst für einen erfahrenen Fährtenleser wäre das eine unvernünftige Frage gewesen. Das Dach der Schmiede hielt den
Regen fern, und die Wände schützten den gestampften Boden. Tier selbst wäre nicht imstande gewesen zu sagen, wie lange der Stahl auf dem Boden gelegen hatte, nachdem irgendein Notfall den Schmied herausgerufen hatte.
Aber Lehr verfügte ebenso wie Jes und Tier selbst über eine Weisung - die Weisung des Falken, des Jägers.
Lehr sah sich mit seinen Falkenaugen um, und Tier spürte, wie Magie aufstieg, als sein Sohn die Spuren der Menschen las, die hier gearbeitet hatten.
»In diesem Gebäude war seit mindestens zwei Tagen niemand mehr«, sagte er schließlich. »Aber bis gestern gab es hier noch Hühner.«
Sie hatten keine Hühner gesehen, als sie näher gekommen waren.
»Es sind immer noch Menschen im Dorf«, sagte Jes einen Augenblick später wachsam. »Ich kann sie riechen.«
Etwas an diesem verlassenen Ort hatte Tiers ältesten Sohn beunruhigt. Jes, sein liebenswerter, langsam sprechender Jes, war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben, und an seine Stelle war das tödliche Raubtier getreten, das manchmal aus Jes’ Augen schaute. Jes’ Weisung war eine schwerere Last als die der anderen. Er war Hüter, und Tier schauderte nun von der magisch bewirkten Angst, die dieses zweite Wesen begleitete und die für die Adler-Weisung so einzigartig war.
Lehr blickte nicht einmal auf. Er betrachtete den Boden direkt vor der Schmiede. »Etwas hat die Hühner gefressen.«
»Was für ein Etwas?«, fragte Tier.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Lehr. »Es ist nicht sehr groß - es wiegt etwa so viel wie ein kleinerer Wolf. Hier ist ein Pfotenabdruck.«
Tier starrte die schwache Spur im Staub des
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