Rabenzauber
brauchte. Sie versuchte, ihre Panik und ihre Ungeduld so gut wie möglich zu dämpfen. Sie hatte gerade mit einer weiteren Runde des Nachdenkens begonnen, als etwas Spitzes sie in die Hand stach, in der sie den Edelsteinring hielt. Sie sah die Hand erstaunt an und erkannte, dass die rostfarbene Weisung, die den Lerchenstein umgeben hatte, sich zu einer großen Nadel geformt hatte.
Sie dachte sehr intensiv daran, wie dankbar sie dafür war, als sie das Garn in die Nadel einfädelte. Dann schob sie das Stopfei unter das größte Loch im Gewebe von Tiers Weisung. Sie hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn sie seine Haut mit der Nadel ritzte, und sie wollte es auch nicht unbedingt herausfinden.
Vorsichtig nahm sie die Nadel in die mit der Weisung bedeckten Hände und nutzte mehr ihre Willenskraft als ihre Finger, um die Nadel in Tiers Weisung zu stecken, zwei Fingerbreit vom Rand des Risses entfernt.
Wie bei einem fest gestrickten Pullover machten die Fäden der Bardenweisung ihrer Nadel Platz, und das Stopfei schützte Tier vor der Spitze. Der Ring, den sie lose zwischen zwei Fingern hielt, ging durch Tiers Weisung, als lasse sich keiner
von der Gegenwart des anderen stören. Die Nadel jedoch funktionierte so gut, wie Seraph gehofft hatte. Vorsichtig zog sie sie durch das Gewebe von Tiers Weisung zurück und nähte rings um den Riss, bevor sie begann, Längs- und Querfäden über das Loch zu ziehen.
Stunden vergingen, aber sie war tief in ihre Arbeit versunken. Die Risse im Gewebe zu stopfen, kostete sie ihre ganze Konzentration, und sie erkannte erst, wie müde sie war, als Tier sie ansprach.
»Seraph, hör mich an. «
»Ich bin noch nicht fertig«, erwiderte sie störrisch. Es gab immer noch Löcher. Kleine Löcher, die sich in größere verwandeln würden. Sie sah sich nach ihrem Garn um, konnte aber keins mehr finden.
»Hennea sagt, du kannst nicht mehr tun, als du bereits geleistet hast. Hör auf, Seraph.«
Die Nadel verblasste, bis Seraph nur noch einen Ring in der Hand hielt. Halb betäubt erkannte sie, dass Tier ihre Handgelenke hielt und sie schüttelte.
»Sie hat aufgehört«, sagte Hennea, deren Stimme nicht viel mehr als ein heiseres Murmeln war.
»Ich bringe sie in die Betten.«
Das war Lehr. Wieso war er schon wieder hier?
»Bring du Mutter nach oben«, sagte Jes. »Ich kümmere mich um Rinnie und helfe dir dann mit Papa.«
»Ich kann selbst aufstehen«, sagte Tier.
Tier. Seraph ließ die Hand aus seinem lockeren Griff gleiten und packte ihn fest am Arm.
»Hennea«, sagte sie. »Kannst du es dir ansehen - magisch ansehen?« Sie war zu müde, um selbst noch Magie gebrauchen zu können.
»Es ist besser«, erwiderte der andere Rabe. »Es wird nicht ewig halten, aber es sollte uns ein wenig Zeit verschaffen. Ich
hätte nie daran gedacht, die Weisungen auf solche Art zu benutzen.«
»Du hast auch noch nicht viele Socken gestopft«, erwiderte Seraph. Sie fragte sich einen Moment, wie ihre Arbeit für Hennea ausgesehen haben mochte, die eher Licht sah als Gewebe. Aber sie konnte sich nicht lange genug an die Frage klammern, um sie zu stellen. Sie wusste, dass es Tier besser ging, auch wenn es nur für kurze Zeit sein würde, und sie ließ sich friedlich in die weiche Dunkelheit der Erschöpfung sinken.
Jes wartete, während Lehr seine Mutter aufhob und mit ihr zur Leiter ging, die zum Schlafraum seiner Eltern führte. Dann streckte er seinem Vater die Hand hin, der ächzend wieder aufstand.
»Danke, Jes«, sagte er »Ich habe mich schon gefragt, wie ich wieder hochkommen sollte.« Er folgte Lehr mit schwerem Hinken die Leiterstufen hinauf.
Hennea lehnte an den Steinen der Feuerstelle, die nun kühl waren, da kein Feuer brannte. Sie hatte die Augen geschlossen, aber er wusste, dass sie noch wach war. Rinnie hingegen schlief tief. Nichts hatte sie wach halten können, nicht einmal der schwere Geruch von Magie, der immer noch in der Luft hing.
Er ließ Hennea, wo sie war, und hob seine kleine Schwester hoch. Sobald er sie berührte, konnte er ihre Träume spüren. Sie flog am Nachthimmel, und das dunkle Land lag tief unter ihr; sie ritt auf dem Sturmwind, wie sie es in der Wirklichkeit mit ihrem Geist tun konnte.
»Es gibt Kormorane, die tatsächlich fliegen können«, sagte der Hüter, dann zog er sich sofort wieder zurück.
Beschützerisch packte Jes Rinnie fester. Es beunruhigte ihn, dieses Wissen, über das er nicht verfügen sollte, über das der Hüter nicht verfügen sollte.
Weitere Kostenlose Bücher