Rabenzauber
Woher wusste er, dass Kormorane fliegen konnten, wenn Rinnie und Benroln die einzigen
waren, die er je gekannt hatte? Aber sosehr ihn das auch verstörte, der Hüter fand es noch viel erschreckender. Jes konnte sich nicht erinnern, dass irgendetwas den Hüter je zuvor verängstigt hatte.
Er trug Rinnie um die Behelfswand, die er und Lehr am Vortag gebaut hatten, und legte sie sanft aufs Bett.
Dieses seltsame Wissen war ein Teil der Veränderung, die mit ihnen stattfand, einer Veränderung, die sowohl dem Hüter als auch Jes Angst machte. Auch Mutter war deshalb besorgt. Jes hatte immer mit dem Hüter gesprochen, hatte ihn beruhigt und den ununterbrochenen Zorn verringert, mit dem der Hüter lebte. Aber erst, seit er zusammen mit ihm im Foundrael eingesperrt war, hatte der Hüter ihm geantwortet.
»Sie ist zu jung zum Fliegen«, murmelte Jes leise. »Wir würden nicht gut genug auf sie aufpassen können.«
Der Hüter schwieg, und Jes wusste nicht, ob er zuhörte oder sich vollkommen abgeschottet hatte. Das Letztere war gefährlich. Wenn der Hüter aus einem solchen Winterschlaf wieder auftauchte, war er voller Zorn, und man konnte nicht vernünftig mit ihm reden.
Aber er erhielt keine Antwort, also kehrte er zurück, um Hennea zu holen. Sie saß anders da als zuvor - sie hatte offenbar versucht aufzustehen.
Ihr Haar war dunkel von Schweiß, und sie hatte Ringe unter den Augen. Es kam Jes so vor, als hätte sie auch abgenommen, als hätte die Macht, die sie Mutter gegeben hatte, ihren Körper ausgelaugt.
Sanft hob er sie hoch.
»Sie gehört uns«, erklärte der Hüter.
»Wenn sie das will«, erwiderte er entschlossen, und er verbarg nicht, wie erleichtert er darüber war, dass der Hüter sich nicht zurückgezogen hatte. »Du solltest nichts tun, das sie vertreibt.«
»Jes?«, murmelte sie.
»Ich bringe dich ins Bett«, sagte er.
»Papa hat Mutter gesagt, dass sie uns liebt.«
Jes spürte, wie ihm ein breites Grinsen auf die Lippen trat. »Das hat er.«
Der Hüter teilte den süßen Duft ihrer Haut mit ihm, also ließ Jes ihn im Gegenzug spüren, wie intensiv sie sich wünschte, sicher in seinen Armen zu liegen.
Er legte sie in ihr Bett, das neben dem von Rinnie stand. Wie die Trennwand war es am Vortag entstanden. Sie schlief sofort wieder ein, und er streichelte ihr leicht über die Wange, weil er seinem eigenen Wunsch und dem des Hüters einfach nicht widerstehen konnte.
Sie öffnete die Augen, blass und unkonzentriert. »Jes«, sagte sie.
»Ja?«
»Erinnere mich. Morgen. Landkarten und Colossae. Es ist wichtig. Für deinen Vater.«
Er spürte, wie der Hüter von … von einem namenlosen Gefühl erfüllt wurde, als er den Namen der uralten Stadt hörte.
»Ich werde dich erinnern«, sagte Jes und schob die aufflackernde Vision einer Stadt beiseite, die er nie zuvor gesehen hatte.
Diese seltsamen Einblicke machten dem Hüter Angst. Jes konnte spüren, wie sie in ihm aufstieg, und dann kam der Zorn, der die Angst zu Asche verbrannte, Zorn, den Jes hinunterschluckte und wieder hinunterschluckte, bis es wehtat zu atmen.
»Jes?«
»Wir sollten es jemandem sagen«, murmelte er. Vielleicht kann jemand uns helfen zu verstehen, was hier geschieht. Uns helfen, damit wir vorbereitet sind. Das war es, dachte er. Der Hüter
fürchtete sich vor etwas, das passieren würde, wenn er sich an zu viel erinnerte. Etwas Schlimmes.
»Morgen. Wir erzählen es deiner Mutter«, murmelte Hennea, die seine Äußerung falsch verstanden hatte.
Der Hüter hörte ihn ebenfalls. Jes wusste das, weil die glühende Wut des anderen zu einem verdrießlichen Schwelen erstarb, das er besser ertragen konnte.
Hennea schlief ein. Jes gestattete sich noch einmal, ihr übers Haar zu streichen, bevor er sie neben seiner Schwester ruhen ließ und zur Feuerstelle zurückkehrte.
»Wem sagen?«, fragte der Hüter, lange nachdem Jes eine Reaktion erwartet hätte.
Mutter? Nein, sie quält sich ohnehin schon wegen uns und fühlt sich schuldig. Das will ich nicht. Papa? Vielleicht Lehr. Lehr ist sehr schlau. Er hatte Hennea bewusst nicht erwähnt. Wenn ihre Sorge sie bereits veranlasste, sich von ihm fernzuhalten, wollte er nicht, dass sie sich noch mehr Gedanken machte.
»Im Augenblick niemandem«, beschloss der Hüter. Aber Jes wusste, dass er sich allein schon bei dem Gedanken, jemandem seine Veränderungen mitzuteilen, besser fühlte. »Wir können es jemandem sagen, wenn es notwendig wird. Und es könnte notwendig werden.«
7
N
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