Rabenzauber
selbst wenn tatsächlich jemand Avars Schrei gehört hatte, war es eher unwahrscheinlich, dass er sich Phorans Seite und nicht den Angreifern anschloss.
Kissel und Toarsen hatten die Schwerter gezückt. Phoran duckte sich unter einer gegnerischen Klinge hindurch und schob die Hüfte hinter die seines Angreifers. Ein rascher Stoß,
und der Mann fiel rückwärts, genau, wie Gerant versprochen hatte, als er die Bewegung zwei Tage zuvor bei den morgendlichen Übungen beschrieben hatte.
Ja, es funktionierte, aber Phoran konnte seinen Vorteil nicht nutzen, weil er zu sehr damit beschäftigt war, einem weiteren Schwert auszuweichen. Er konnte dem Angreifer die Waffe nicht entringen, sondern musste sich zurückziehen, um nicht erschlagen zu werden.
Eine glitzernde Klinge kam aus dem Nichts und zuckte schnell wie eine Schlange auf seinen Bauch zu. Phoran beobachtete sie mit seltsamer Distanziertheit, die ihn befiel, sobald ihm klar wurde, dass es keinen Ausweg mehr gab, dass niemand zu seiner Rettung käme. Er wusste, dass dieses Schwert ihm den Todesstoß versetzen würde.
Die Klinge berührte Phorans Tunika, aber dann wurde sie zurückgerissen und fiel zu Boden, zusammen mit dem Mann, der sie in der Hand hielt. Neben dem niedergestürzten Angreifer stand eine vertraute dunkle Gestalt, von der Phoran gehofft hatte, sie nie wieder zu sehen.
In einer verwirrenden Mischung aus Erleichterung und Entsetzen starrte Phoran das Memento an, das nun so viel stofflicher wirkte als bei ihrer letzten Begegnung. Das Wesen erwiderte seinen Blick - oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein, denn es hatte keine Augen. Dann setzte es seine Jagd fort.
Es hätte verschwunden sein sollen. Die Heilerin hatte gesagt, sobald er die Leute umgebracht hatte, die für seinen Tod verantwortlich waren, würde der Geist des Raben, dessen Ermordung Phoran mit angesehen hatte, aufhören zu existieren. Der junge Kaiser war so sicher gewesen, dass das Memento weg war. Er hatte es nicht mehr gesehen, seit es die Meister des Pfads getötet hatte, die Zauberer, die einen Raben umgebracht hatten, um seine Macht zu stehlen, worauf sich das
Memento dieses Raben an den einzigen Zeugen geheftet hatte, der nicht gegen es geschützt gewesen war: Phoran.
Nun sah das dunkle Ding beinahe aus wie ein Mann, der sich ganz in ein schwarzes Tuch gehüllt hatte, das aus seinem Kopf bis zum Boden wallte, und es bewegte sich von einem Angreifer zum nächsten. Es war fester, als der junge Kaiser es in Erinnerung hatte, aber außer Phoran beachtete es zunächst keiner - und niemand außer Phoran und den Reisenden hatte es je sehen können.
Wenn das Memento immer noch hier war, warum war es dann nicht mehr jede Nacht zu Phoran gekommen, um sich zu nähren? Und wenn es sich nicht mehr von ihm nähren musste, warum schützte es ihn dann?
Phoran sah zu, wie seine maskierten Angreifer einer nach dem anderen starben. Einige wurden von Menschenhänden getötet. Gerant und Avar hatten sich bewaffnen können, und beide waren bemerkenswerte Kämpfer. Aber etliche mehr wurden Opfer des Memento.
Mit verschränkten Armen sah Phoran zu, wie die verbliebenen Kämpfer auf beiden Seiten langsam bemerkten, dass es noch etwas gab, das die Attentäter umbrachte. Toarsen und Kissel hörten vollkommen auf zu kämpfen und flankierten Phoran.
»Schon gut«, sagte er. »Es wird mir nicht wehtun.« Was beinahe komisch war, da er noch die Narben von den Bissen des Memento an beiden Armen trug. Aber er wusste, dass es ihn nicht töten würde. Das konnte es nicht tun. Wenn er starb, würde es ebenfalls sterben.
Das Memento wandte Phoran wieder seinen augenlosen Blick zu.
Noch während er sich zwischen das Wesen und Phoran schob, fragte Avar leise: »Was ist das, Phoran?«
»Es wird mir nichts tun«, sagte Phoran noch einmal. Keiner der anderen konnte das Memento sehen, dachte er, nur Avar.
Er erinnerte sich daran, dass es zuvor nie zu ihm gekommen war, wenn Avar sich in der Nähe befunden hatte - lag das daran, dass es wusste, Avar könne es sehen?
Aber die anderen hatten zumindest bemerkt, wie viele Attentäter tot umfielen, und sie würden wissen, dass Magie dahintersteckte. Magie, die irgendwie mit dem Kaiser zu tun hatte.
»Ich habe mich heute Abend genährt«, erklärte das Memento und ignorierte alle außer Phoran. »Ich werde dir eine Antwort auf eine Frage erteilen. Wähle.«
Warum bist du nicht weg?, dachte Phoran. Wenn du nicht gestorben bist, als der Pfad gestürzt wurde,
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