Rabenzauber
kümmern, Jäger. Dein Vater wird tot sein, und das Gleiche sollte für seinen Körper gelten.«
Wieder schloss sie die blinden Augen und tätschelte Lehrs Hand. »Also gut«, sagte sie. »Ich habe meinen Teil an dieser Sache zu Ende gebracht. Jetzt kann ich das Problem des Schattens denen überlassen, die dazu geeigneter sind.« Ihr Atem geriet ins Stocken, als hätte sie Schmerzen beim Luftholen. »In meinem Karis liegt eine Tasche. Gebt sie eurer Mutter; sie wird wissen, was es ist und was sie damit tun soll.«
»Still«, sagte Lehr. »Ruh dich aus.«
Stattdessen schloss sie die linke Hand um seine. »Jes«, sagte sie und streckte die freie Hand aus. »Komm und nimm meine Hand. Und jetzt hört ihr beide zu.« Aber sie sagte nichts mehr, sondern entsandte ihre Magie durch ihn wie eine Flamme, die ihn beinahe bis zum Schmerz wärmte, aber nicht ganz. Jes’ verblüffte Miene sagte Lehr, dass sie mit ihm das Gleiche tat.
»Jetzt seid ihr sicher«, sagte sie schließlich ein wenig kurzatmig. »Die Seuche kann euch nicht töten oder von euch auf andere übertragen werden. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ihr geht, schließt das Tor. Zwei Wochen, bevor es sicher ist, die Stadt wieder zu betreten. Sorgt dafür. Haltet die Menschen fern.«
»Ich weiß wie«, versprach Lehr. »Ich kann dafür sorgen, dass zwei Wochen lang niemand hierherkommt.«
»Vorsichtig.«
»Immer, Großmutter«, sagte er.
Sie drückte seine Hand, aber sie sprach nicht mehr. Einen Augenblick später spürte er, wie sie sich entspannte und einschlief.
Jes säuberte den Karis , während Lehr die alte Frau im Arm hielt. Er fand irgendwo frisches Bettzeug - Lehr fragte nicht, wo. Dann legte Lehr sie in ihren Karis und blieb bei ihr sitzen.
Jes legte die Hand auf seine Schulter, dann ließ er die beiden allein.
Als es auf den Abend zuging, ging Lehr nach draußen, um nach Seide zu sehen, aber sie war bereits abgesattelt, gestriegelt und gefüttert und befand sich auf einer kleinen Koppel, die der Zaunhöhe nach zu schließen gewöhnlich Ziegen beherbergte. Jes war nirgendwo zu sehen, also kehrte Lehr zu Brewydd zurück.
Sie hatte ihn gerettet, als er bis in die Seele verwundet gewesen war.
Er hatte Menschen getötet. Er hatte sich im Dunkeln an sie angeschlichen und ihnen die Kehle durchgeschnitten, bevor sie auch nur gewusst hatten, dass er da war. Er hatte sie kaltblütig umgebracht, hatte jede Bewegung bereits geplant. Es war kein ehrlicher, gerechter Kampf gewesen, denn das hatte er sich nicht leisten können - nicht, wenn der Preis im Leben seiner Mutter bestand.
Danach hatte Brewydd ihn unter ihre Fittiche genommen und ihm beigebracht, was es bedeutete, ein Jäger und ein Mensch zu sein - und er war ziemlich sicher, dass sie auch etwas von ihrer Heilkunst auf seine Seele ausgeübt hatte. Unter ihrer ruppigen Art und scharfen Zunge lag ein weiches Herz.
»Hier«, sagte Jes.
Lehr blickte auf und nahm das trockene Fladenbrot, das Jes ihm reichte. Es stammte aus ihrem Gepäck, nicht aus dieser Stadt. Lehr biss ein Stück ab und schluckte. »Wo bist du gewesen?«
»Ich habe mich nach Überlebenden umgesehen«, berichtete Jes mit abgewandtem Blick. »Wir sollten keine Überlebenden hierlassen. Aber alles ist tot. Menschen und Tiere.«
»Ich werde sie nicht hierlassen«, sagte Lehr. Er sprach nicht aus, dass sie starb, oder dass es eine sinnlose Grausamkeit wäre, sie zu bewegen. Jes würde das wissen.
»Ich warte mit dir«, sagte sein Bruder und setzte sich auf den Boden.
Brewydd erwachte nicht mehr, sondern driftete irgendwann in der Nacht davon, als Lehr döste.
Jes fand eine Schaufel und half Lehr, neben dem Ahornbaum ein Grab auszuheben. Lehr wickelte sie fest in ihr Bettzeug und legte sie hinein.
Jes stand neben ihm, als er mit Zuschaufeln fertig war. »Irgendwo«, sagte er, »fliegt eine neue Lerche.« Er drückte Lehrs Nacken liebevoll, ließ ihn aber schnell wieder los. »Wir müssen gehen, bevor andere kommen.«
Lehr sattelte Seide und ging neben ihr und Jes her, bis sie zu den Toren kamen. Dann schickte er Jes mit der Stute weiter, während er die Tore von innen schloss und verbarrikadierte. Von dieser Seite aus hinüberzuklettern war einfacher, und er ließ sich schon bald neben Jes auf den Boden fallen.
Er hob beide Hände zu den Mauern und kümmerte sich als Erstes um den leichteren Teil. Mauern wurden gebaut, um Leute fernzuhalten, und das verstärkte er mit seiner Macht. Niemand würde imstande sein, über oder durch
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