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Rabenzauber

Rabenzauber

Titel: Rabenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
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Schlaf, um auf seinen Befehl hin zu kämpfen.«
    Tier ließ seine Magie frei, und sie zeigte ihm, dass er sie im Lauf der Jahre zu fest an bestimmte Stellen gebunden hatte. Diese Bindungen, sah er nun, waren der Grund gewesen, wieso es ihm so schwergefallen war, die Geschichte zu erzählen. Als die Magie ihn durchzog, abwechselnd berauschend und furchterregend, kehrten auch die Worte zu ihm zurück, so vertraut und weich wie eine alte Baumwolldecke, aber voller unerwarteter Kletten, die stachen und kribbelten.

    »Er verlor sich selbst und seinen Namen. Es blieb nur ein Titel, den die Männer ihm gegeben hatten, die im Kampf für ihn gestorben waren. Sie nannten ihn den Schatten.«
    »Zahllos waren die Helden …« Die Stimme des anderen wurde ebenfalls Teil der Geschichte. Tier spürte, wie seine Magie eilte, den Zuhörer zu umfassen.
    »Zahllos waren die Helden, die fielen«, fuhr Tier fort. »Ihre Lieder blieben ungesungen, denn es war niemand mehr da, um sie zu singen.« Er hielt inne und ließ den anderen übernehmen.
    »Dann kam der Rote Ernave, der mit Axt und Bogen kämpfte …«
    »Ein Riese von einem Mann«, fuhr Tier fort. »Er sammelte sie alle, Männer, Frauen und Kinder, die alt genug waren, um einen Stock zu halten oder einen Stein zu werfen. Er nannte sie die Ruhmreiche Armee der Menschheit und lehrte sie zu kämpfen.«
    Als hätte seine Zelle keine Wände mehr, standen die Angehörigen der Ruhmreichen Armee nun vor Tier. Hager und zerschlagen trotzten sie schweigend und reglos dem Bösen. Es gab nur wenige Männer im Soldatenalter in dieser Armee; die meisten waren hohlwangige Frauen, alte Männer und eine kleine, kostbare Gruppe von Kindern, abgehärmt von Hunger und Angst.
    Durch das Band, das die Magie zwischen Geschichtenerzähler und Publikum wob, wusste Tier, dass sein Zuhörer sie ebenfalls sah.
    »Und in den ersten Herbsttagen beriet sich der alte Magier des Königs mit dem Roten Ernave. Sie sprachen die ganze Nacht miteinander, nur diese beiden, und als die Morgensonne aufging, hatten die Tage des Magiers ihre Zahl erreicht. Man verbrannte ihn in einem großen Ritual, und als die letzten Kohlen verglühten, versammelte der Rote Ernave seine
Armee. Er brachte sie zu einer Ebene direkt auf der anderen Seite des Felsengebirges.«
    Tier war selbst einmal dort gewesen. Er war der Spur einer Hirschkuh gefolgt und hatte dann plötzlich vor der Ebene von Schattenfall gestanden. Es gab keine Schilder, die die Unwissenden warnten, aber er hatte gewusst, wo er war. Selbst so viele Jahrhunderte später, unter einer Decke rein weißen Schnees, gehörte dieser Ort dem Tod. Tier hatte beinahe die Erde des verwundeten Lands unter seinen Füßen gespürt.
    Auch jetzt erstreckte sich die Ebene vor ihm; er erkannte die Formen der Gipfel, die sie umgaben. Es gab allerdings keinen Schnee am Boden, um die Leichen zu verbergen, die dort lagen.
    »Dort, dort stellten sie sich dem Heer des Schattens und kämpften. Der Himmel wurde schwarz, und Blut durchtränkte den Boden.« Tier nahm den bitteren Geruch alten Blutes wahr und hätte sich bei dem vertrauten Gestank des Krieges beinahe übergeben.
    »Leichen stapelten sich, und die Schlacht tobte tagelang. Und nächtelang.«
    Kampfgeräusche hallten in der Zelle wider, und Tier fiel auf, dass er vergessen hatte, wie überwältigend sie waren: das Klirren von Metall auf Metall und die Schreie der Sterbenden.
    »Die Geschöpfe des Schattens brauchten nicht zu schlafen, und sie nährten sich von den Toten. Die Armee der Menschheit kämpfte, weil ihr nichts anderes blieb; sie kämpfte und starb. Aber am dritten Tag starben nicht so viele wie am zweiten. Am vierten Tag schien es, als werde das böse Heer kleiner, und die zerlumpte Bande schöpfte Hoffnung - zum ersten Mal trieben sie das Heer zurück.«
    Tier bemerkte, dass er innehalten musste, um Atem zu schöpfen, und warten, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigte. In seiner pechschwarzen Zelle sah er einen vernarbten
Krieger mit roter Mähne, der die Axt gegen die Schulter lehnte und hoffte, dass Tier weitererzählte.
    Aber es war alles zu wirklich geworden, und die Worte verschwanden beinahe, verloren in der Trostlosigkeit dieser lange vergangenen Schlacht.
    »Und zum ersten Mal durchflutete Hoffnung die Armee der Menschheit«, sagte der andere, und seine Stimme klang so angestrengt wie die von Tier.
    »Aber noch während sie jubelten, wurde der Himmel dunkler, obwohl es erst Mittag war, und ein weiterer Angriff

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