Rabinovici, Doron
wurde?«
»Was soll das heißen?«
»Hören Sie mir zu, Herr
Professor. Meine Aufzeichnungen ergaben nicht bloß, daß der Gesalbte schon
gezeugt wurde — was meine geschätzten Kollegen genug schockierte. Ich konnte
aufgrund der Verknüpfung aller offenen und verschlüsselten Verkündungen sogar
bestimmen, wann, wo und von wem. Ja, selbst die Nacht, in der die Frau und der
Mann einander erkannt hatten, in einem galizischen Schtetl. All das ließ sich
eindeutig feststellen.«
»Eindeutig?«
»Zugegeben: Alles eine Frage
der Interpretation, Herr Professor! Soll sein. Aber eben eine mögliche Lesart
und zudem die einzige, die von den Gelehrten nachvollzogen werden kann. Doch
sie weigern sich, die Konsequenzen zu denken. Sie fürchten das Ergebnis! Die
Schlußfolgerung! Das Urteil!« Die letzten Worte hatte der Rabbiner nicht mehr
geflüstert, sondern gekreischt, und die Kellnerin schaute zu ihrem Tisch
herüber. Er aber achtete nicht darauf. Ethan sah diesen Mann vor sich, dessen
Durchdrungenheit wie von einer anderen Welt war. Mit solchem Charisma mochten
die Religionsgründer früherer Jahrhunderte ausgestattet gewesen sein. Aber die
biblischen Zeiten waren vorbei. Galt einer, der so erfüllt war vom Glauben,
heute nicht bestenfalls als Fanatiker oder gar als psychotischer Fall?
Der Rabbiner sprach weiter,
fiebrig. Er ballte dabei die Faust. »Was, frage ich, wenn der Meschiach gezeugt
wurde, von einem Juden und einer Jüdin im Polen der frühen vierziger Jahre, von
einer Frau und einem Mann, deren Abstammung und Herkunft, deren Leben und Leidensweg
ich nachzuzeichnen imstande war. Was, wenn alle Vorhersagungen der Schrift sich
bewahrheitet haben. Ich kann Ihnen, Herr Professor«, er schlug im Takt seiner
Worte auf den Tisch, »die Beweise vorlegen.«
Aus einer Tasche kramte er ein
Konvolut von Dokumenten, Notizen und Karten hervor. »Ich habe historische
Fakten, Stammbäume, Gemeindebücher, Gerichtsurteile verglichen mit den
verborgenen Hinweisen aus den verschiedenen Schriften. Ich habe erkennen
müssen, wie alles zueinanderpaßt. Es ist alles verzeichnet. Wir sind gezählt
und gewogen, Herr Professor, und wir, ob wir auf Leder stehen oder nicht, wir
sind alle, allesamt, für zu leicht befunden worden. Nichts sind wir und
nichtig. Es ist verbucht, Herr Professor. Millionenfaches Nichts. Verstehen
Sie?«
Zum ersten Mal in diesem
Gespräch spürte Ethan gegen seine eigene Überzeugung, daß hinter den Worten
des Rabbiners ein bezwingender Gedanke stecken mochte. Eine tiefere Wahrheit.
Er begriff noch nicht, worauf der Rabbiner hinauswollte, aber er fühlte, welche
Verzweiflung diesen frommen Menschen zu seinen Studien und Nachforschungen
getrieben haben mußte.
»Der Meschiach«, wisperte er
und sah sich um, »es ist bezeugt, er war bereits gezeugt. Noch wußte niemand
von ihm. Noch hatte niemand ihn gesehen. Aber unter der Brust einer Frau wuchs
ein Embryo heran. Ich kann die Zeichen entschlüsseln, kann jeden Buchstaben zur
Zahl entziffern, kann die Methoden unserer Gerechten anwenden und damit sogar
den Geburtstermin festlegen, an dem das Kind das Licht der Welt hätte erblicken
sollen. Jener Nachkomme Davids und Salomons aus dem Hause Juda, der uns
endlich den Sinn allen Seins eröffnet hätte. Aber es kam nicht dazu. Da ist
kein Sinn mehr, sondern bloß noch Unsinn, nein, Widersinn geblieben. Dieses
Wesen wurde nicht. Seine Mutter konnte ihm kein Leben schenken, weil sie ihres
schon verloren hatte, weil es ihr geraubt, weil sie erschossen worden war. Der
Vater sollte sein Kind nie in die Arme nehmen, weil ihn die Mörder vergast
hatten. Im Winter des Jahres 1942 war das Schtetl zusammengetrieben worden, und
alle wurden innerhalb weniger Tage ermordet. Was soll ich sagen? Wozu
erzählen, was sich an Abertausenden Plätzen genauso zugetragen hat. Sie
sperrten Frauen, Kinder und Männer in eine Scheune und zündeten sie an. Die
anderen durften draußen zuschauen, wie die Verwandten um ihr Leben schrien, wie
der Rauch aus dem Inneren stieg, wie das Feuer hochschlug, wie sie den Flammen
zu entkommen versuchten, wie sich einige wenige aus den Fenstern stürzten und
von der SS totgeschlagen wurden. Wie die meisten in den Wald getrieben wurden,
um jene Gruben auszuheben, in die sie bald danach hineingeschossen wurden. Was
soll ich Ihnen erzählen, Herr Professor? ... Keines meiner Worte reicht aus.
Meine Sprache versagt. Und Sie werden es ohnehin nie verstehen. Was soll ich
Ihnen erklären? Wieso der Rest ins
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