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Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anderrnorts
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Lager verschleppt wurde?«
    Ethan nickte, dann fragte er
leise: »Sie waren dort, nicht wahr, Rabbi Berkowitsch?«
    Der Rabbiner erbleichte, und
dann flüsterte er: »Ich kann Ihnen sagen, Herr Professor, es hat sich getan.«
    Ethan wußte nicht, wohin
schauen, da fuhr der Alte fort: »Ich war andernorts. Im Wald.« Er räusperte
sich. »Wir sind alle Überlebende, Herr Professor. Keiner hätte übrigbleiben
sollen. Kann vorherbestimmt sein, was geschah? Fragen Sie sich manchmal, Herr
Professor, wie Religiöse sich erklären, was uns widerfuhr?«
    Ethan nickte. »Ich kenne die
Theorien. Manche meinen, der Holocaust unterscheide sich nicht von anderen
Katastrophen, die das Judentum trafen.«
    »Blödsinn! Die geplante
Ausrottung eines Volkes, die industrielle Produktion von Leichen war noch nie
da. Nie!«
    »Dann, Rabbi, gibt es noch die
These, Gott hätte die Juden für ihre Sünden bestraft.«
    »Und die Million ermordeter
Kinder? Sogar der Satan selbst könnte keine Sünde erfinden, die von diesen Kleinen
gesühnt werden müßte. Nebbich. Es gibt keine Erklärung. Am dümmsten ist die
Theorie, der Massenmord sei notwendig gewesen, um Israel zu gründen. Wieso
sollte Gott den Juden, von denen er zuerst die meisten umbringen läßt, ein Land
schenken? Das wäre so, als würde einer sagen, es gibt Brände, damit die
Feuerwehr mit roten Autos, Blaulicht und Sirenen durch die Stadt rasen kann.
Das ist doch meschugge. Nein. Die Feuerwehr gibt es wegen der Flammen. Der
Staat wurde gegen den Antisemitismus gegründet. Alle unsere Erklärungen taugen
nicht, da sie nicht beantworten können, warum solch ein Verbrechen sein mußte. Was
aber, wenn die Antwort für uns nur nicht zu erkennen ist, weil sie in der
Zukunft liegt. Vor uns. Vor unseren Augen. Vor unserer Nase!«
    Ethan war verstummt.
Berkowitsch fuhr fort: »Sie müssen es doch verstehen. Sie sind doch nicht so
blöd. Eben deshalb, weil unsere Erklärungen nichts erhellen, bleibt alleinig
der Verweis auf Gott. Verstehen Sie?«
    Ethan begann die
Ungeheuerlichkeit zu begreifen, die Berkowitsch andeutete. »Sie wollen doch
nicht sagen, die Vernichtung sei Gottes Schöpfung? Der Massenmord ist ohne
Sinn, ist das Widersinnige schlechthin!«
    Der Rabbi winkte ab: »Die
Shoah das Ergebnis blinder Zufälle? Die Untat ist so böse, so monströs. Sie
schreit nach einem zentralen Plan. Gottes Existenz war nie so offenkundig wie
in jenem Augenblick, da er sich nicht zeigte, da er fehlte.«
    Ethan fröstelte bei diesem
Gedanken: »Auschwitz als Gottesbeweis?«
    Der Rabbiner fuchtelte mit dem
Zeigefinger. »Auschwitz als Teufelswerk, und wenn der Satan existiert, wird der
Glaube an Gott zur Gewißheit. In der Shoah sehen wir das Übermenschliche, denn
es gibt dafür keine Erklärung, die in unseren Kopf paßt. Wir müssen erkennen,
daß manches jenseits unseres Geistes liegt.« Und dann schrie er: »Ist es meine
Aufgabe, Gott zu rechtfertigen? Er selbst muß sich verantworten. Nur er kann
offenbaren, wieso er es zuließ. Und die einzige Antwort, die wir akzeptieren
können, ist die sofortige und vollständige Erlösung. Verstehen Sie, Ethan?
Nichts weniger! Das Ende aller Leiden. Die Verbannung des Bösen von dieser
Erde. Die Herrschaft Gottes durch das Erscheinen des Meschiach. Gesegnet und
willkommen König Meschiach. Baruch hu, baruch haba melech hamaschiach!« Die
letzten Worte hatte er gerufen, als wäre er der Ansager in einem Boxring in Las
Vegas. Eine arabische Familie auf Krankenbesuch, die gerade am Cafe
vorüberging, zuckte zusammen, als hätte sich das Gebrüll gegen sie persönlich
gerichtet. Eine Krankenschwester rief ihn streng zur Ruhe, er sei hier in einer
Klink, in der Patienten geschont werden müßten. Aber Rabbiner Berkowitsch
achtete nicht auf die Zurechtweisung, nicht auf die Nebentische, nicht auf die
Patientin, die im Rollstuhl vorbeigeschoben wurde. Er sprach weiter und
fixierte dabei Ethan, zwang ihn ebenfalls, die anderen nicht zu sehen. »Nichts
weniger ist zu akzeptieren. Nichts anderes steht in den Büchern.«
    »Aber Rabbi, Sie haben doch
gesagt, der Messias sei im Mutterleib ermordet worden.«
    »So ist es.«
    War es möglich, daß der
Rabbiner seine eigenen Worte und ihre Bedeutung nicht erfaßte? Schwungvoll
schlug Rabbi Berkowitsch einen Ordner auf. Der Deckel drückte die Cremetorte
flach, und die weiche Füllung quoll hervor. »Ich sehe, was Sie denken, Herr
Professor. Ich weiß durchaus um den Widerspruch in meinen Aussagen. Dieses
Paradoxon

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