Rache an Johnny Fry
wahrscheinlich nie einen Dollar sehen.«
Ich stand auf. »Ich gehe dann besser.«
»Bitte, bleib heute Nacht«, bettelte sie. »Bitte.«
»Ich muss diesen Mann treffen.«
»Dann komm hinterher wieder.«
»Es könnte ein Arbeitstreffen werden, Jo. Dann wird es spät.«
»Wirst du mich anrufen?«
»Sicher. Klar«, sagte ich. »Und wenn es noch früh genug ist, komme ich zurück… Ich meine, wenn du nichts dagegen hast.«
»Natürlich nicht«, sagte sie. »Du weißt, du kannst jederzeit kommen.«
Ich verließ Joelle um drei Uhr nachmittags. Der Tag war immer noch schön, und ich ging zu Fuß.
Die Leute auf der Straße lächelten mich an und grüßten. Es wehte eine kräftige Brise, und ich empfand Erleichterung darüber, dass Joelle mit Johnny Fry Schluss gemacht hatte. Denn das hatte sie eben am Telefon sicher getan. Bis Freitag wollte sie nicht mit ihm reden, und Freitagabend würde ich sie wiedersehen.
Ich machte einen Abstecher in die Gourmet Garage und kaufte eine geräucherte Renke und einen fertigen Gemüsesalat. Im Weinladen The Cellar, ein Stück die Straße hinunter, leistete ich mir einen weißen Burgunder.
Als ich nach Hause kam, lag eine Liste mit Fotogalerien im Fax und dazu eine handschriftliche Notiz von Linda Chou.
Lieber Mr Cordell Carmel,
vielen Dank für die Rosen. Sie sind wunderschön. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, aber ich freue mich darüber. Bitte rufen Sie an, wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten mit den Galeristen haben. Ich helfe Ihnen gern.
Mit freundlichen Grüßen,
Linda Cho.
In ihren Worten lag Hunger. Vor diesem Tag hätte ich Linda Chous Sehnsucht möglicherweise nicht verstanden, aber jetzt hatte ich sie in Jo und Johnny gespürt, in Bettye und auch in mir.
Ich begriff, dass ich hungernd durch mein bisheriges Leben gegangen war, ohne auch nur eine Ahnung davon gehabt zu haben. Ich war voller Wut auf Jo und Johnny, aber der eigentliche Schmerz rührte daher, dass ich bis dahin nie kapiert hatte, wie leer und unerfüllt mein Leben war. Die Bilanz meiner fünfundvierzig Jahre belief sich auf wenig mehr als das Nichts in einer abgeworfenen Schlangenhaut.
Ich vermochte meine Freundin nicht zu befriedigen.
Meine Arbeit hätte jeder machen können, der in der Highschool Französisch und Spanisch gelernt hatte.
Lust und Leidenschaft blieben allwöchentlich auf wenige Minuten beschränkt.
Und all diese Mängel waren von mir völlig unbemerkt geblieben.
Um 20.06 Uhr klingelte es.
»Hallo?«, sagte ich in die Sprechanlage. Schon der leichte Druck auf den Knopf schickte Schmerzpfeile durch meine verletzte Hand.
»Hier ist Lucy.«
»Dritter Stock«, sagte ich.
Ich hielt den Türöffner länger als nötig gedrückt, denn der Schmerz, der das verursachte, schien richtig, sogar gut. Er erinnerte mich an Sasha und an Jo mit ihrem weit aufgerissenen Arsch. Die sexuelle Erregung ließ mich schaudern.
Ich rechnete nicht damit, mich mit Lucy auf irgendwelche amourösen Geschichten einzulassen, besonders jetzt nicht, da Jo mit Johnny gebrochen hatte. Aber Lucy war jung und schön, und ich hatte jahrelang nach Liebe gehungert, auch wenn es mir nicht bewusst gewesen war.
»Hi«, sagte sie, als sie hereinkam.
Sie trug eine durchsichtige türkisfarbene Bluse mit einem weißen schulterfreien Top darunter und einen sehr kurzen weißen Faltenrock. Sie küsste mich auf den Mundwinkel und lächelte.
»Sie sehen toll aus«, sagte ich.
»Danke. Und danke auch, dass Sie versuchen wollen, mir zu helfen. Es bedeutet mir eine Menge, dass Sie an meine Arbeit glauben und verstehen, wie wichtig diese Kinder sind.«
»Fangen wir am besten gleich an«, sagte ich. »Ich möchte mir noch einmal sämtliche Fotos in Ruhe anschauen, und diesmal brauche ich die Geschichten dazu. Ich will diese Kinder und ihre Welt so gut kennen, als wäre ich selbst dort gewesen.«
»Was ist mit Ihrer Hand?«, fragte Lucy.
»Ich bin gefallen.«
»Sind Sie okay? Ist was gebrochen?«
»Nein. Es ist nichts. Sehen wir uns die Fotos an.«
Lucy kannte jeden Namen, erinnerte sich an jede Stadt und jedes Dorf, in dem sie fotografiert hatte. Sie wusste, an welchen Krankheiten die Kinder litten und woran ihre Eltern gestorben waren. Sie wusste, was sie aßen und wie viel verdorbenes Wasser sie jeden Tag bekamen.
»Sie haben sich wirklich mit diesen Menschen beschäftigt«, sagte ich.
»Sie sterben«, antwortete sie. »Ich muss ihre Geschichten erzählen.«
»Was ist mit
Weitere Kostenlose Bücher