Rache an Johnny Fry
ich die Galeristen überzeugen? Wie konnten diese Kinder mit ihrer Not eine Tür öffnen, durch die ich zu schlüpfen vermochte?
Die Nightwood Gallery lag vier Blocks entfernt, und mir war klar, dass ich meine Vorgehensweise verändern musste. Bei Roderick hatte ich die Fotos einfach nur ausgebreitet und fest damit gerechnet, dass sie ihn berühren würden. Dass ihn das, was er da sähe, nicht kalt ließe.
Aber jetzt war ich bereit, für meine Klientin und die Kinder zu kämpfen.
Ich war mit Isabelle Thinnes verabredet, der Besitzerin der Nightwood Gallery. Sie war weiß, etwa sechzig Jahre alt, groß, schlank und wirkte aristokratisch. Ihr grau meliertes schwarzes Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten zusammengebunden.
Ich saß ihr gegenüber an einem Tisch mit einer grün-weiß-schwarzen Marmorplatte, legte eine Hand auf die Mappe vor mir und ließ Miss Thinnes wissen, dass ich etwas zu sagen hätte, bevor ich ihr die Arbeiten zeigte.
Isabelle Thinnes und Brad Mettleman waren gut befreundet, allein deshalb hatte sie eingewilligt, sich mit mir zu treffen. Meine vorwitzige Geste ließ sie stutzen. Plötzlich war sie gezwungen zu überlegen, wer wohl dieser Mann war, der da vor ihr saß.
Das alles glaubte ich in ihren Augen lesen zu können.
»Bevor Sie sich diese Arbeiten ansehen, muss ich Ihnen etwas sagen, Miss Thinnes. Die Bilder werden Sie betroffen machen. Es sind Bilder von Kindern, von denen die meisten wahrscheinlich bereits tot sind. Sie werden den Tod in ihren Augen erkennen. Sie werden sehen, dass sie nicht zu retten sind. Diese Kinder sind Opfer ihres eigenen Volkes und unserer aller Gleichgültigkeit. Sie tragen Waffen oder Puppen, sie stehen vor ausgebrannten Behausungen und auf Schlachtfeldern. Es gibt viel Rauch auf diesen Fotos, Rauch, der von den zerstörten Hütten aufsteigt, in denen diese Waisen leben, Rauch von Explosionen, Rauch, der den Blick und den Verstand der übrigen Welt verschleiert. Aber nichts von dem ist wichtig.«
»Nein?«, fragte Isabelle, und ihre intelligenten blauen Augen versuchten zu ergründen, worauf ich hinauswollte.
»Nein«, sagte ich. »Solche Bilder finden Sie überall. Vielleicht nicht so gut dargeboten, vielleicht nicht mit dem gleichen unfehlbaren Auge aufgenommen. Aber jeden Abend können Sie sterbende Kinder im Fernsehen sehen, das Internet ist voll von ihnen. Auf einem der Fotos sieht man im Vordergrund ein rehäugiges Mädchen, das sich kaum auf den Beinen halten kann, so hungrig und schwach ist es. Hinter ihm flattert stolz eine amerikanische Flagge. Niemand weiß, wie die Flagge da hingekommen ist. Vielleicht handelt es sich um ein Camp, das wir gebaut haben, um den Kindern zu helfen. Ganz gleich, Ihr Publikum wird es als Anklage verstehen. Wir alle haben nichts getan, um diesen Kindern zu helfen, und sollte Amerika, unser Land, etwas getan haben, dann war es zu wenig und kam zu spät.«
»Sie verkaufen Ihre Bilder sehr gut, Mr Carmel«, sagte Isabelle Thinnes sehr ernst.
»Ich verkaufe hier noch nichts, Miss Thinnes. Bisher geht es nur um den Ansatz, das Grundsätzliche. Aber Sie und ich, wir beide wissen, dass wir über ein Geschäft reden. Ein Geschäft mit Kunst, ja, aber doch ein Geschäft. Ich persönlich glaube, dass Lucy Carmichael zu den wichtigsten jungen Fotografen gehört, die in der New Yorker Szene in den letzten zehn Jahren zu entdecken waren. Nur will das nichts heißen, wenn sich die Bilder nicht verkaufen.«
»Sie nehmen kein Blatt vor den Mund«, sagte die Galeristin, »ich könnte allerdings auch nicht sagen, dass Sie unrecht haben.«
»Deshalb«, fuhr ich fort, »habe ich Lucy überredet, eine Stiftung zu gründen, der die Hälfte der Einkünfte aus dem Verkauf dieser Fotos zukommen wird. Ich weiß, der Standardpreis für die Arbeit einer unbekannten Fotografin wie Lucy würde bei zweitausendfünfhundert Dollar liegen. Wir aber werden sechstausend verlangen.«
»Sechstausend!«
»Ja. Weil dreitausend Dollar von jedem verkauften Foto an die Lucy Carmichael-Stiftung für die Kinder in Darfur gehen.«
»Sie sagen also, diese Fotos werden bei den Leuten, die sie sehen, Schuldgefühle hervorrufen…«
»… und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit geben, diese Gefühle zu besänftigen«, sagte ich und führte ihren Gedanken damit zu Ende.
Miss Thinnes blickte gedankenversunken in meine Richtung, das Gesicht frei von jeder erkennbaren Regung. Nach einer Weile überzog ein Lächeln ihre Züge.
Die Durchsicht der Fotos selbst
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