Rache an Johnny Fry
Haft.
Es ist merkwürdig, dass mir das alles nichts ausmachte. Ich war wohl nicht ganz bei Sinnen – und irgendwie gefiel es mir, dass plötzlich so gut wie jeder Augenblick mit den kleinen schönen Dingen des Lebens gespickt war.
Ich konnte fast hören, wie Linda das Herz schlug.
Meine Nasenflügel bebten, und sie lächelte mich an.
»Ich bin mit Miss Thinnes handelseinig geworden. Sie wird Lucy Carmichaels Arbeiten ausstellen«, erklärte ich ihr.
»Tatsächlich?« Lindas Augen und ihr Mund formten drei perfekte Kreise, ohne dass sie dafür ihr einladendes Lächeln aufgegeben hätte. »Sie ist eine echt harte Nuss. Brad hat in den letzten zwölf Jahren ganze zwei Ausstellungen mit ihr organisieren können.«
»Ich habe an ihr Gewissen appelliert«, sagte ich, »und ihr erklärt, dass Lucy eine Stiftung für die Waisenkinder im Sudan ins Leben gerufen habe. Wie es scheint, gefällt Miss Thinnes der Gedanke, dass sie da etwas tun kann.«
»Ist das nicht etwas zynisch?«, fragte Linda und schlug die Beine übereinander. Sie trug ein oberschenkellanges orangefarbenes Seidenkleid mit gelben Fischmustern darauf. Es war so geschnitten, dass man den Eindruck hatte, weit mehr von ihren Schenkeln zu sehen, als sie tatsächlich zeigte.
Der Anblick erregte mich, aber es war dieses Wort, das mich aufhorchen ließ: zynisch. Nicht das Wort selbst, sondern die Provokation, die es in sich barg. Sie warf mir vor, Miss Thinnes’ hehre Absichten nicht zu achten, sondern auszunutzen.
Das erinnerte mich an meinen Vater.
Für einen Augenblick sah ich ihn im Wohnzimmer unserer Wohnung in der Isabella Street in Oakland stehen. Ich erzählte den Leuten schon so lange, ich käme aus San Francisco, dass ich unsere kleine Hinterhauswohnung in Oakland mitunter vergaß.
Mein Vater saß auf dem verschlissenen kastanienbraunen Fernsehsessel, den er irgendwo in den reichen Weißenvierteln zwischen Berkeley und Oakland am Straßenrand gefunden hatte.
Verstand ist die einzige Waffe, die ein Nigger hat, sagte er. Dabei sprach er so schnell, wie er es immer tat. Ob die Weißen dich lieben oder hassen, ist ganz gleich. Weil sie nie so fühlen wie du. Nein, nein. Nicht auch nur eine Minute. Die Weißen werden dich nie verstehen und nie das tun, was du willst. Können sie nicht. Deshalb musst du lernen zu denken wie sie und herausfinden, was ihnen im Kopf rumgeht, damit du sie dazu bringen kannst, zu tun, was du willst.
»Ja«, sagte ich zu Linda. »Sie haben recht. Ich habe sie glauben gemacht, dass sie den Menschen im Sudan helfen kann, indem sie der weißen Fotografin, die dort war und diese Kinder fotografiert hat, Geld hinterher wirft. Sie will sechstausend Dollar pro Foto nehmen.«
»Sechstausend?«, sagte Linda. »Wahnsinn.«
»Auch Lucy glaubt, dass sie den Menschen dort helfen kann«, sagte ich mit einem Lächeln, das womöglich traurig wirkte.
»Sie glauben es nicht?«, fragte Linda, nahm das eine Bein vom anderen und stützte die Ellbogen auf eine sehr maskuline Weise auf ihre Knie.
»Sie sind sehr hübsch, Linda Chou.«
»Ist das die Antwort?«
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube… Ich glaube nicht, dass wir… Ich meine, niemand von uns versteht, wie tief der Schmerz in den Menschen sitzt. Wir denken – und glauben, die anderen denken ebenso. Wir fühlen – und glauben, die anderen fühlen ebenso. Aber die meiste Zeit machen wir uns in dieser Hinsicht etwas vor.«
Meine Worte überraschten uns beide.
»Na prima«, sagte Linda Chou und lächelte.
»Waren Sie je mit einem Mann zusammen und haben sich dann von ihm getrennt, weil Sie festgestellt haben, dass Sie nichts von ihm wussten?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sie mit neu erwachtem Interesse.
»Man sieht die Menschen an und fragt sich, was um alles in der Welt man sich nur gedacht haben mag, als man sich mit ihnen einließ. Wie konnte ich diesen Menschen küssen oder auch nur mit ihm sprechen? Er war nie der, für den ich ihn gehalten habe.«
Linda biss sich wieder auf die Lippen.
»Was hat das mit den Kindern in Darfur zu tun?«, fragte sie und rechnete ernsthaft mit einer Antwort.
»Die Menschheit ist wie ein Körper«, sagte ich und dachte, dass ich am liebsten auf die Knie gegangen wäre und mein Gesicht zwischen ihren Schenkeln vergraben hätte. »Nicht ein paar Menschen hier und ein paar Menschen da. Vor einigen Tagen habe ich mir die Hand verletzt. Ich hatte Schmerzen, und obwohl die Diagnose eindeutig war, musste der Arzt doch noch alles mögliche andere
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