Rache auf leisen Pfoten
war eine kleine schwarze Kugel, ohne Kommentar. Sie sah nach dem Poststempel: 22901, das Hauptpostamt in Charlottesville. »Wieder einer, scheint mir.«
»Oh nein.« Miranda eilte hinzu. »Nicht unbedingt.«
»Ich seh in den Postfächern nach.«
Alle ihre Klassenkameraden hatten auch einen Brief bekommen.
Miranda wählte schon Rick Shaws Nummer.
Big Mim klopfte an die Vordertür. Harry schloss auf, ließ sie um Punkt acht Uhr herein.
»Guten Morgen, Harry.«
Miranda legte den Hörer auf. »Morgen, Mim.«
»Schauen Sie.« Harry zeigte Big Mim den Brief.
»Sehr originell ist er nicht, oder?« Naserümpfend hielt Mim das zerfetzte Blatt Papier in ihren behandschuhten Händen.
»Nein.« Harry seufzte. »Aber nach jedem Brief ist ein Mord geschehen.«
»Rick schon angerufen?«
»Gerade eben«, sagte Miranda.
»Wer immer es ist, er scheint entschlossen zu sein, Ihnen das Jubiläum zu verderben.« Mim klopfte auf die Trennklappe.
»Hat er schon, gewissermaßen. Wir werden uns nicht darüber unterhalten, was wir in zwanzig Jahren erlebt und gelernt haben, oder uns an die Dummheiten erinnern, die wir in der Schule gemacht haben. Wir werden uns über die Morde unterhalten.« Harry war wütend.
»›Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführet; und ihrer sind viele, die darauf wandeln.‹« Miranda zitierte Matthäus, siebtes Kapitel, Vers dreizehn. »Ich weiß nicht, warum mir das eben durch den Kopf geschossen ist.«
33
Wimpel flatterten von Trauben metallisch schimmernder Luftballons herab. Mrs Murphy und Pewter sausten durch die Turnhalle, sprangen hoch, um auf die Schnüre zu schlagen. Tucker saß unter einer Leiter und sah dem Jubiläumsteam zu, das geschäftig die vergrößerten Foto-Poster von den Jahresbesten der Abschlussklassen aufhängte.
Ein leichter Frost überzog die Erde mit silbrigem Glanz. Es war kalt in der großen Turnhalle, die für das Dekorieren nicht geheizt worden war. Gottlob würde sie am nächsten Morgen geheizt sein.
Harry und Chris hatten am Eingang drei lange Tische aufgestellt. Darauf legten sie Tischtücher. Auf die Tischtücher kamen hübsch gestaltete Kärtchen für jeden Buchstaben des Alphabets. Vor den Alphabetkarten lagen ordentlich gestapelt die Erkennungsplaketten für alle teilnehmenden Mitschüler. Jede Plakette trug in der linken oberen Ecke ein kleines Foto von der betreffenden Person aus der Highschool-Zeit. Das hatte sich als teuer erwiesen und zu einer weiteren Auseinandersetzung zwischen Harry und Boom Boom geführt, aber als Boom Boom die Plaketten sah, musste sie zugeben, dass sie sehr hilfreich waren. Manche, die sich stark verändert hatten, würde man nur anhand der Fotos aus der Highschool-Zeit wiedererkennen.
Susan brachte Sandwiches. Sie hatte das Essen für die zweitägige Feier organisiert, aber sie hatte auch an die schwere Arbeit am Vorabend gedacht. Ihnen blieb nur der Freitagabend für die Vorbereitungen, weil die ganze Woche in der Crozet High School unterrichtet wurde.
Zum Erstaunen aller ließ Boom Boom die Rahmen für die Fotos schon Wochen vorher anfertigen. Alle Balsaholzrahmen waren nummeriert, ebenso die niedrigen Körbe in Gestalt rennender Pferde, die als Tischdekoration gedacht waren.
T-Shirts waren zusammengerollt und mit blauem und goldenem Bast verschnürt worden. Wegwerfkameras, eine für jeden Teilnehmer, waren ebenfalls in den Körben, dazu Kleinigkeiten von hiesigen Geschäftsleuten. Art Bushey hatte Ford-Schlüsselanhänger spendiert. Die Firma Blue Ridge Graphics gewährte einen erheblichen Rabatt auf die T-Shirts. Die Baseballkappen dagegen waren zum Verkauf bestimmt, um Geld für die Mehrkosten aufzubringen. Die T-Shirts hatten ursprünglich auch zu diesem Zweck verkauft werden sollen, doch Bob Shoaf, der sich als Profifootballspieler eine goldene Nase verdient hatte, spendete die Summe für die Shirts, damit niemand außen vor bleiben musste, weil er kein Geld für Andenken hatte.
Harrys Arbeit war getan. Woche für Woche hatte sie die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert. Sie hatte Radiospots geschaltet, war in den Abendnachrichten von Channel 29 aufgetreten – zusammen mit Boom Boom, die keiner Kamera widerstehen konnte. Sie hatte pfiffige Zeitungsanzeigen unter Verwendung des Schulwappens und der Fotos von 1980 entworfen.
Frühstückspensionen und eine Hotelkette gewährten Preisnachlässe für die heimkehrenden Ehemaligen der Abschlussklassen
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