'Rache'-Box: Rachezug, Rachegier und Rachetrieb (German Edition)
Spurensicherung begrüßte Nora nüchtern mit einem Kopfnicken. Er ersparte sich jeden unangemessenen Kommentar und machte sich sogleich an seine Arbeit. Möglicherweise spürte er, dass Nora in der derzeitigen Situation überaus angespannt und gereizt war. Ein falsches Wort von ihm hätte ungeahnte Folgen haben können. Obgleich Nora den selbstverliebten 53-Jährigen im Allgemeinen nicht besonders schätzte, musste sie in diesem Moment zugeben, dass sie von ihm positiv überrascht war. Barg er tatsächlich einen Hauch von Anstand tief in seinem Inneren?
Dann erinnerte sie sich daran, dass er auch schon am zweiten Tatort keinen provozierenden Kommentar von sich gegeben hatte. Sie fragte sich, worin der Grund dafür zu finden war. Doch Schubert riss sie rabiat aus ihren Gedanken, indem er äußerte: „Der Täter scheint die Wohnungstür mit voller Wucht aufgetreten zu haben. Das Einsteckschloss ist zwar noch heile, aber das Gegenstück im Türrahmen vollkommen zersplittert. Daher frage ich mich, ob das keiner der Nachbarn gehört hat.“
Nora hob die Achseln. „Vielleicht sind die direkten Nachbarn nicht daheim.“
Eine spätere Überprüfung sollte ergeben, dass die angrenzende Wohnung auf der linken Seite derzeit gar nicht vermietet war. Die Mieterin der Wohnung auf der rechten Seite war zur Tatzeit in der Uni gewesen. Und der Bewohner der gegenüberliegenden Unterkunft hatte laute Musik über seine Kopfhörer gehört und daher nichts von dem Angriff mitbekommen.
„Aber noch mehr verwundert mich die Tatsache“, sagte Schubert nun skeptisch, „dass der Täter die Tür überhaupt eingetreten hat.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Tommy, der soeben zurück in die Wohnung kam und Nora mit einem entschuldigenden Blick ansah.
Seine Kollegin zögerte. Sie hätte ihn am liebsten sofort wieder auf seine Gefühle zu Xenia angesprochen. Doch in diesem Moment musste sie sich vollkommen auf die Tatortanalyse konzentrieren. Daher erwiderte sie seinen Blick und nickte leicht.
„Nun“, räusperte Schubert sich. „Aus Sicht des Mörders stelle ich es mir viel einfacher vor, auf höfliche Weise anzuklopfen und abzuwarten, bis das Opfer die Tür öffnet. Sobald die Tür einen Spaltbreit offen gestanden hätte, wäre es für den Mörder kein Problem gewesen, die Studentin zu überrumpeln. Das wäre weniger Aufwand gewesen und vermutlich auch viel leiser über die Bühne gegangen.“
Thomas nickte. „Eine nachvollziehbare Überlegung.“
„Zudem gibt es hier keine Anzeichen für einen Kampf“, setzte Nora ein. „Daher ist es seltsam, dass Xenia vor ihrem Bett gelegen hat. Vermutlich befand sie sich also hier im Wohnraum, als der Täter die Tür eintrat. Hätte sie sich dann aber nicht gewehrt? Mir fielen jedoch nicht einmal an ihrem Körper Kampfspuren auf.“
„Und welche Schlüsse ziehst du aus diesen Beobachtungen?“, fragte Thomas. „Kannte Xenia ihren Angreifer?“
„Das glaube ich nicht. Zwar würde das erklären, warum sie sich nicht gewehrt hat und wieso es hier keine Kampfspuren gibt. Denn wenn sie den Mörder kannte, dann ahnte sie wahrscheinlich nichts Böses und wurde plötzlich von ihm überrumpelt. Aber weshalb ist dann die Tür zersplittert? Wenn der Mörder einer von Xenias Bekannten wäre, dann hätte er die Tür erst recht nicht eintreten müssen. Xenia hätte ihm die Tür nach einem kurzen Anklopfen geöffnet und ihn bedenkenlos in die Wohnung gelassen.“
Tommy erkannte: „Und wenn einer ihrer Bekannten doch die Tür eingetreten hätte, dann wäre Xenia alarmiert gewesen, weil dessen Verhalten mehr als seltsam gewesen wäre.“
„So ist es. Wir haben es scheinbar mit einer Person zu tun, die Xenia nicht kannte. Aber das erklärt noch nicht, warum sie sich nicht gewehrt hat. Sie hätte auch zum Fenster stürmen und aus diesem fliehen können. Aber auch das hat sie nicht gemacht.“ Nora setzte sich auf einen Stuhl, der vor Xenias Schreibtisch stand. „Ich werde aus diesem ganzen Durcheinander nicht schlau. Meiner Ansicht nach passen hier einige Dinge nicht zusammen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass der Mörder bei seinen bisherigen Taten viel professioneller vorgegangen ist. Mit jeweils einem gezielten Stich ins Herz hat er die beiden anderen Studentinnen ermordet. Und das vollbrachte er an Orten, die riskanter waren als diese Wohnung. In der Bibliothek hängen Kameras und an den Hörsälen hätten jederzeit Studierende vorbeigehen können. Das bedeutet, dass der Mörder an den
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