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Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers

Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers

Titel: Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schmidt
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versuchen, mit geringstem Zeitaufwand einen Reim aus dem Wort Löwe zu zaubern. Nach einer viertel Stunde hatte ich folgenden Text parat:

    Dass Löwen Antilopen mögen und es wagen,
    Pfannen zu erschlagen,
    ist doch maßlos übertrieben,
    doch so steht es da geschrieben!
    Ein Schmierfink hat dort ungeniert
    aufs Titelblatt gekliert
    mit Verlaub,
    was nicht mal ein Säugling glaubt!

    Frau Schindler nahm meinen Entwurf zuerst in die Hand und las und lachte. Dabei hüpfte ihr Busen rauf und runter. Anzengruber blieb ernst, weil ich versucht hatte, die Redakteure als Lügenbolde hinzustellen.
    Dann nahm er den Stadtanzeiger zur Hand und schlug die Seite 6 auf. Dort befanden sich, auf engem Raum zusammengerafft, einige anspruchsvollere Texte, die einen kulturellen Aufschwung in der Region deklarieren sollten. Anzengruber las folgenden Text zweimal, wohl zu begründen mit der spätbarocken Ausdrucksweise von 1778. Da stand:
     
    Das Wasser rauscht‘, das Wasser schwoll,
    Ein Fischer saß daran.
    Sah nach dem Angel ruhevoll,
    Kühl bis ans Herz hinan.
    Und wie er sitzt, und wie er lauscht,
    Teilt sich die Flut empor;
    Aus dem bewegten Wasser rauscht
    Ein feuchtes Weib hervor.
    Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
    »Was lockst du meine Brut
    Mit Menschenwitz und Menschenlist
    Hinauf in Todesglut?
    Ach wüsstest du, wie’s Fischlein ist
    So wohlig auf dem Grund ...

    Das war z.B. ein Auszug aus Goethes naturmagischer Ballade «Der Fischer«. Anzengruber war entzückt. Offenbar hatte er für Lyrik etwas übrig. Seiner Meinung nach war dieser Text richtig platziert. Plötzlich zog er die Stirn kraus, machte ein Essiggesicht und blickte zu mir herüber. Es hatte den Anschein, als wollte er mich für die Seite 6 redaktionell verantwortlich machen.
    Alles, was sonst noch an halbwegs erbaulichem Text auf der Kulturseite stand, wurde durch eine blödsinnige, knallrote Großanzeige übertüncht:

    Frischfisch auf jeden Tisch!

    Rollmops 6,80 DM/kg
    Salzhering 5,50 DM/kg
    Räuchermakrele 4,80 DM/kg
    Bückling 5,10 DM/kg
    Hering in Aspik 3,80 DM/kg
    Kieler Sprotten ...

    »Wir kennen die Gewässer und wissen, woher unsere Tiere kommen – damit sichern wir Qualität!«

    Das war das Ende des Zitats! »Armer Goethe!«, dachte ich. Anzengruber tat so, als sei er entsetzt. Das machte ihn ein wenig sympathischer. Er schlug das Blatt zu und schmiss es achtlos beiseite. Natürlich musste der Stadtanzeiger Inserate an Land ziehen, um existieren zu können. Von Lyrik allein ging das natürlich nicht. Zwar gehörte Anzengruber zur obersten Heeresführung des Stadtanzeigers, aber die Administrative saß zwei Türen weiter. Anzengruber war die dritte Garnitur und dazwischen existierte nichts. »Also Herr Drehwolke, mir zu Liebe – ich nenne ihnen jetzt ein Wort und Sie schneidern etwas daraus zusammen! Z. B. passt ‚Herbstlaub’ zur Jahreszeit und hinsichtlich der derzeitigen Querelen in der Redaktion das Wort ‚Mensch’!«, sagte Frau Schindler. »Ach bittschön, Herr Drehwolke, das Wort ‚Mensch’ ist doch soo einfach – auch da könnten Sie etwas daraus schreiben!«, fügte sie hinzu. »Ich versuch’s!«, sagte ich. Und gerade weil das Wort ‚Mensch’ so einfach war, brauchte ich ewig und drei Tage, um mir einen Reim auf den Menschen zu machen. Ich dichtete also aus dem Wort Herbstlaub sofort einen 11-Zeiler, eigentlich nur um zu dokumentieren, dass ich Worte finden konnte, die sich miteinander reimten:

    Mein Herbstlaubbuch

    Gebunden hat man’s ohne Text,
    war’s doch wie verhext -
    starr mein Sinn und nichts geschrieben,
    erst wollt’ ich’s und dann ist’s geblieben!
    Dann sagt’ ich mir: »Legst Herbstlaub rein,
    von Ahornbäumen und Kastanien,
    von Magnolien, Buchen und Geranien,
    von Birken, Linden, Ulmen, Eichen
    und von blätterreichen
    Essigbäumen vor dem Zaun
    und Laub vom Williams Birnenbaum!«
     
    Ebenso fiel mir etwas zum Wort »Mensch« ein, allerdings nicht sofort – ich nahm meinen Papierkram mit heim und grübelte bis gegen Morgen an diesem eigentlich so einfachen Wort herum, bis folgendes auf dem Papier stand:
    Das Menschsein oder: Ein Mensch

    Ein Mensch wiegt Atome, ein andrer Salbeitee,
    einer sticht ins Wespennest, ein andrer in See,
    mancher empfiehlt sich, mancher nicht,
    einer ist düster, ein andrer ein Licht,
    einer komponiert ein »Stück«,
    ein andrer Farben mit Geschick,
    ein Mensch löst Probleme, ein andrer Zucker im Kaffee,
    einer spricht weise, ein andrer Schnee,
    ein Mensch setzt

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