Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
glaubte offensichtlich, dass Familienfotos auf dem Schreibtisch ebenso in das Arbeitszimmer eines traditionellen Gentlemans gehörten wie Jagdtrophäen an der Wand.
Auf einem der Fotos blickte sie besitzergreifend auf ein hübsches Mädchen herab, das sich vorbeugte, um die Kerzen auf einer Geburtstagstorte auszublasen. Bei der Ähnlichkeit des Mädchens mit Imogen musste das ihre Tochter sein, dachte Alva.
Sie nahm das Foto in die Hand und sagte sanft: »Es muss ein entsetzlicher Schock für Sie gewesen sein, Ihre Enkeltochter zu verlieren.«
Sofort wünschte sie, sie hätte das nicht gesagt. Das Gesicht des alten Mannes, ja, sein ganzer Körper schien zusammenzuschrumpfen, als versuchte er verzweifelt, ein Gefühl im Zaum zu halten, das ihn zerreißen könnte, wenn er es rausließ. Er war ein Mann, der in ein Leben voller Reichtum und Privilegien hineingeboren worden war, dem sämtliche dazugehörigen Annehmlichkeiten und Möglichkeiten mit in die Wiege gelegt worden waren. Und doch hatte Alva jetzt das Gefühl, die Art von Schmerz und Verzweiflung vor Augen zu haben, wie man sie normalerweise nur nach irgendeiner gewaltigen und vernichtenden Naturkatastrophe im Fernsehen zu sehen bekam.
»Verzeihung, Verzeihung«, sagte sie kleinlaut. »Ich dachte nur, weil sie auf dem Foto so reizend aussieht.«
»Welches Foto?«, sagte Sir Leon und flüchtete sich aus seiner Trauer in Gereiztheit. »Ich hab hier kein Foto von Ginny. Das könnte ich nicht ertragen.«
»Aber das hier«, sagte Alva und hielt den Rahmen hoch. »Ist sie das nicht?«
»Seien Sie nicht albern. Natürlich nicht. Das ist Imo.«
»Imogen? Ihre Tochter?«, sagte Alva ungläubig und versuchte, die Kerzen zu zählen.
»Ja klar. An ihrem vierzehnten Geburtstag. Eben noch vierzehn, und schon gehen sie auf die vierzig zu, das sagt man doch heute über junge Mädchen, nicht wahr?«
Vierzehn! Imo in dem Alter, als sie Hadda kennenlernte.
Aber etwas passte da nicht. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Mädchen um Imo handeln könnte, weil es überhaupt nicht zu ihrem Bild von dem mageren vorpubertären Kind passte, das sich Hadda angeblich auf dem Pillar Rock hingegeben hatte. Das hier war ein gesunder junger Teenager, und da sie sich vorbeugte, ließ ihr Ausschnitt ein Paar sehr gut entwickelte Brüste erahnen.
Selbst auf eine Psychiaterin können mitunter zu viele Informationen auf einmal einstürmen.
Trotz Sir Leons offensichtlich immer dringender werdendem Wunsch, sie aus dem Arbeitszimmer und dem Haus zu bekommen, blieb sie wie gebannt stehen und starrte auf das Foto.
Sie musste ausführlicher mit dem alten Mann reden, sie musste erneut mit Imogen sprechen und vor allem musste sie Hadda zur Rede stellen.
Aber in welcher Reihenfolge und in welcher Weise sie das tun sollte, war ihr nicht klar.
Dann klingelte ihr Handy. Sir Leon verzog bei dem Geräusch das Gesicht. Sie holte es aus der Tasche und schaute aufs Display. Es war Elvira.
Sie will sich nach meinem mutmaßlichen Date erkundigen, vermutete Alva. Egal, sie soll eine Nachricht hinterlassen.
Jetzt nahm Sir Leon sowohl die Situation als auch Alvas Ellbogen fest in die Hand, und eine Minute später stand sie draußen vor dem Haus, und die Tür schloss sich hinter ihr.
Sie hatte ihre Gedanken noch immer nicht sortiert. Es kam ihr wie eine vertane Gelegenheit vor, Imogen nicht noch mehr Fragen zu stellen, wo sie schon mal hier war. Vielleicht sollte sie zurück ins Haus gehen und weiter nachbohren. Aber als sie sich zum Haus umwandte, fiel ihr nicht nur erneut auf, wie abweisend es wirkte, sondern sie bemerkte auch das Gesicht von Lady Kira, die aus einem der oberen Fenster spähte, sowie das von Mr Nikitin hinter einem der unteren.
Sie stieg ins Auto und ließ sich die neuen Informationen durch den Kopf gehen, versuchte, ihre Bedeutung einzuschätzen und sie in verwertbare Daten umzuwandeln.
Die wichtigsten Punkte waren:
Erstens: Imogen sagte, Ginny sei nicht Haddas Kind. Wahr oder falsch?
Zweitens: Leon sagte, er sei nicht um seiner Tochter willen, sondern um Haddas willen gegen die Heirat gewesen, aber nicht aus Standesgründen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wahr, befand sie.
Drittens: Mit vierzehn war Imogen ein gut entwickeltes Mädchen mit einem fraulichen Busen gewesen. Eindeutig wahr!
Was also tun?
Sie könnte zurück nach Manchester fahren und weitergrübeln. Sie könnte aus dem Auto steigen, an die Tür trommeln und erneuten
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