Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
Seltsamerweise konnte sie seit ihrem Umzug in Ginnys altes Zimmer schlafen wie ein kleines Kind.
Und jetzt, da sie ganz oben auf dem Pillar Rock saß und sich fragte, ob er kommen würde, und wenn ja, was er tun würde, empfand sie eine fast kindliche Unsicherheit. Die Gefahr war ihr bewusst, aber sie spürte keine echte Angst. Wenn er nicht anders konnte, als ihr etwas anzutun, dann war es eben so. Sie war überzeugt davon, dass er sie nicht würde entstellen wollen, so wie er entstellt worden war. Sie zu töten stand auf einem anderen Blatt. Er hatte nie offen über die Jahre seiner Jugend gesprochen, in denen er verschwunden gewesen war, aber sie war sicher, dass er getötet hatte. Für eine gerechte Sache war er fähig dazu.
Sie starrte nach unten ins Tal und sah sich selbst langsam durch die Luft trudeln.
Natürlich würde es in Wirklichkeit schnell gehen. Knapp zehn Meter pro Sekunde, hatte sie mal gehört. Was etliche Meilen pro Stunde ergab!
Aber wie langsam würde es sich anfühlen? Beim Klettern hatte sie sich das oft gefragt. Für wie viele Erinnerungen und Gewissensbisse war Platz zwischen dem Moment, wenn deine Finger den Halt verloren, und dem nächsten, wenn dein Körper auf Felsen zerschmetterte?
Vielleicht blieb nur Zeit für eine einzige klare Erkenntnis, eine alles erhellende Einsicht.
Vielleicht würde es auch ewig dauern. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die ihr Vater ihr früher vorgelesen hatte, über einen Dieb, der auf der Flucht über den Rand der Welt sprang. Sie hatte oft noch lange wach im Bett gelegen, nachdem Leon das Licht ausgemacht hatte, und sich vorgestellt, was das wohl für ein Gefühl wäre. Und beim Klettern waren ihr oft die Worte durch den Kopf gegangen … und fällt nun hinweg von uns allen, fällt und fällt in die lautlose Schwärze des Ewigen Abgrunds.
Und fällt … und fällt … und fällt.
Sie nahm ein Geräusch wahr, das nicht vom böigen Wind herangetragen worden war. Imogen stand auf und lauschte.
Da war es wieder, das Geräusch von Stiefeln auf Stein, irgendwo weit unten.
Er kam. Sie hatte nie wirklich daran gezweifelt.
Sie setzte sich wieder, um die letzten Minuten abzuwarten.
5
Pudo Pudovkin besaß alle Eigenschaften eines ausgezeichneten Schachspielers: einen Verstand, der mehrere Züge im Voraus berechnen konnte, die Fähigkeit, einen Gegner zu lesen, und die Geduld, einen Zug erst dann zu machen, wenn er keinen Zweifel mehr an dessen Richtigkeit hatte. Er besaß praktisch alles, nur nicht die Fähigkeit, eine Niederlage gelassen hinzunehmen. Nun ist ein schlechter Verlierer nicht gleich ein schlechter Spieler, aber ein schlechter Verlierer, der dazu neigt, schreckliche Wutausbrüche zu bekommen und dem siegreichen Gegner die Schachfiguren in den Rachen zu stopfen, findet irgendwann kaum noch Menschen, die bereit sind, eine Partie mit ihm zu spielen.
Seine positiven Qualitäten plus eine gehörige Portion der schlechten machten aus ihm einen vorzüglichen Killer. Doch an diesem feuchten Februarmorgen musste er erleben, dass seine Geduld auf eine harte Probe gestellt wurde.
Er war frühmorgens in unmittelbarer Nähe von Birkstane angekommen, hatte den unauffälligen grauen Honda, den er fuhr, außer Sicht kurz vor der Zufahrt abgestellt und sich dann an das Haus herangepirscht. In etwa dreißig Metern Entfernung bezog er Posten auf einer kleinen Anhöhe, von wo aus er im Schutz von ein paar verkümmerten Stechginsterbüschen den Hof durch sein Leika-Fernglas beobachtete.
Als der Himmel sich aufhellte, hatte sich etwas im Haus gerührt, und erster Rauch war aus dem Schornstein gestiegen. Dann hatte sich die Tür geöffnet, und Hadda war in die kalte Morgenluft herausgetreten, zu Pudos Verwunderung splitternackt, bis auf ein Handtuch, das er sich über die Schulter geworfen hatte. Er überquerte den Hof und verschwand hinter der Scheune. Das Geräusch von rauschendem Wasser verriet, dass irgendwo in der Nähe ein Bach sein musste. Wahrscheinlich wollte dieser Irre darin baden!
Pudovkin fröstelte schon bei dem Gedanken, aber es würde ihm die Arbeit erleichtern. Das einzige Haar in der Suppe war der räudige Hund, der Hadda auf dem Fuß folgte. Das Biest sah gemeingefährlich aus. Pudovkin hatte was gegen Hunde. Als Kind war er mal von einem gebissen worden. Später war er dann mit einem vergifteten Fleischbrocken zurückgekommen und hatte genüsslich zugesehen, wie das Vieh unter Qualen verreckte. Haddas Hund stand ein gnädigerer Tod
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