Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
Gefahren bewusst, die mir drohten, wenn ich zu häufig die Schule schwänzte, und ich bewegte mich auf dem schmalen Grat zwischen einem internen Ärgernis und einem externen Problem. Aber normalerweise kam ich zu spät zum Unterricht, und wenn ich konnte, haute ich früher ab als erlaubt. Wie gesagt, Tante Carrie war weder physisch noch psychisch in der Lage, mit mir fertigzuwerden. Ja, als ich älter und klüger wurde, falls das das richtige Wort ist, deckte ich die alte Lady sogar so gut ich konnte, einerseits wohl aus Eigennutz, andererseits, wie ich hoffe, auch aus echter Zuneigung zu ihr.
Natürlich blieb mein Verhalten nicht unbemerkt, aber anders als in der Stadt, wo die Leute beim Verdacht auf Kindesvernachlässigung entweder die Augen verschließen oder bestenfalls anonym beim Jugendamt anrufen, löst man solche Probleme auf dem Lande sozusagen unter sich. Rückblickend wird mir klar, dass wahrscheinlich sehr viel genauer über mich gewacht wurde, als ich damals ahnte. Der Postbote hatte seine Augen und Ohren überall, der Vikar schaute zweimal die Woche vorbei, und eine schier endlose Reihe von Frauen aus der Nachbarschaft fand immer einen Grund, Carrie zu besuchen und ein bisschen beim Putzen zu helfen. Außerdem standen irgendwie alle, Lehrer und Dorfbewohner gleichermaßen, meinem Fehlverhalten aus einem mir bis heute unerfindlichen Grund erstaunlich tolerant gegenüber.
Vielleicht wäre etwas Besseres aus mir geworden, wenn mir jemand ab und zu ein paar um die Ohren geben hätte!
Auch Sir Leon zählt zu denjenigen, die es versäumten, mir mal ordentlich die Leviten zu lesen. Ich erinnere mich noch gut, wie mich einmal sein Jagdaufseher erwischte. Da war ich acht oder neun. Ich habe nie richtig gewildert, aber wenn sich mir gelegentlich eine Forelle oder ein Kaninchen förmlich aufdrängte, betrachtete ich das als meinen rechtmäßigen Anteil. An dem Tag, als ich dabei ertappt wurde, wie ich in Sir Leons neu bestückten Fischweiher spähte, hegte ich keinerlei kriminelle Absichten, und gerade das machte mich zur leichten Beute. Ich lag ausgestreckt am Ufer und beobachtete fasziniert das Spiel der jungen Fischbrut, als eine schwere Hand auf meiner Schulter landete und Sir Leons Oberaufseher mich hochriss.
Als er sah, wen er da am Schlafittchen hatte, stieß er mich in seinen Pick-up und fuhr mich durch den Wald zu der Stelle, wo mein Vater einen Trupp Waldarbeiter beaufsichtigte. Sir Leon war auch da, und nachdem ihm die Sachlage geschildert worden war, starrte er zu mir herunter und sagte: »Das ist also Ihr Sprössling, Fred? Wie heißt du, Junge?«
»Wilf«, stieß ich hervor.
»Wilf?«
Dann ging er vor mir in die Hocke, strich mir mit den Fingern durchs Haar, machte meinen Mund auf und spähte hinein, als würde er ein Pferd untersuchen. Dann zwinkerte er mir zu und sagte: »Meinst du nicht eher Wolf? Sieht mir ganz so aus, als wärst du von Wölfen gesäugt worden. Das würde so manches erklären. Von Wölfen gesäugt, und ich dachte, die wären längst ausgestorben.«
Er stand auf, lachte über seinen eigenen Scherz, und alle anderen lachten mit, alle, außer mir und Dad.
Jedes Mal, wenn Sir Leon mich danach sah, nannte er mich Wolf, und mit der Zeit blieb der Name hängen. Die Vorstellung, von Wölfen gesäugt worden zu sein, gefiel mir eigentlich, vielleicht weil Sir Leon mit seiner langen Nase und der wallenden Mähne aus graubraunem Haar aussah, als hätte auch er ein bisschen Wolf in sich. Auf seinen Namen Ulphingstone traf das jedenfalls zu.
Dad dagegen war es äußerst unangenehm gewesen, vor seinen Arbeitern und seinem Boss vorgeführt zu werden. An jenem Abend blieb er zu Hause und widmete mir so viel Aufmerksamkeit, wie wohl seit Mams Tod nicht mehr, und was er da sah, gefiel ihm nicht besonders. Als ich mürrisch auf seine Vorhaltungen antwortete, verpasste er mir erst mit der rechten Hand eine Ohrfeige, und als ich daraufhin wütend wurde, noch eine mit der linken.
Danach war ich gezwungen, mich für eine Weile zu bessern, aber ich hatte nicht nur Gefallen an meinem ungebärdigen Leben gefunden, sondern auch gewisse Fähigkeiten in der Kunst der Täuschung entwickelt, also machte ich mehr oder weniger ungehindert so weiter wie zuvor, nur dass ich mich jetzt etwas mehr in Acht nahm.
Man könnte sagen, dass ich zwar ein Außenseiter war, mir diese Rolle aber selbst gewählt hatte. In der Grundschule hatte ich nie Probleme, mit den anderen Jungs klarzukommen; die meisten waren
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