Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
an.
»Johnny«, sagte Leon, »das ist Wolf Hadda. Wolf, das ist Johnny Nutbrown. Johnny, hol Wolf doch mal ein Glas Limonade.«
Dann ließ er uns allein.
Johnny sagte: »Heißt du wirklich Wolf?«
»Nein. Wilf«, sagte ich. »Sir Leon nennt mich Wolf.«
»Dann nenn ich dich auch so, wenn das okay ist«, sagte er mit einem Lächeln.
Dann ging er mir eine Limonade holen.
Bei dieser ersten Begegnung gewann ich keinen richtigen Eindruck von Johnny. So wie er aussah, sich bewegte und redete, hätte er genauso gut ein Wesen von einem anderen Stern sein können. Ich glaube, schon damals ließ er sich von nichts in Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft beirren, genau wie später als Erwachsener. Er nahm die Ankunft dieses mundfaulen Bauernjungen ganz selbstverständlich hin. Ich glaube, er ahnte gar nicht, dass ich herbestellt worden war, um ihm Gesellschaft zu leisten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihm auch nur eine Sekunde lang etwas ausgemacht hatte, der einzige Junge unter so vielen Mädchen zu sein. Sir Leon hatte sich lediglich vorgestellt, wie er selbst sich unter diesen Umständen gefühlt hätte.
Eine groß gewachsene Frau, schlank und sportlich, mit einer guten Figur und einem Gesicht, das schon fast zu vollkommen war, um noch schön zu sein, kam zu mir und musterte mich kurz mit zwei eiskalten Augen, dann ging sie wieder. Das war Lady Kira. Der eiskalte Blick und das damit einhergehende Schweigen waren richtungsweisend für die meisten unserer zukünftigen Begegnungen.
An die anderen Erwachsenen erinnere ich mich kaum. Und die Mädchen waren bloß ein Durcheinander von hellen Farben und schrillen Geräuschen. Bis auf Imogen. Nicht dass ich da schon gewusst hätte, dass sie Sir Leons Tochter war. Sie gehörte bloß mit zu dem Durcheinander, bis sie anfing zu tanzen.
Die meisten Erwachsenen waren irgendwohin verschwunden. Johnny hatte nach zwei oder drei Versuchen, mit mir ein Gespräch anzufangen, aufgegeben und war wieder eingeschlafen. Die Mädchen hatten ein Radio aufgetrieben, oder vielleicht war es auch ein tragbarer Kassettenrekorder, ich weiß es nicht. Jedenfalls spielte das Gerät die neuesten Popsongs, und sie fingen an zu tanzen. Ich glaube, es war Discotanz – für mich hätte es auch klassisches Ballett sein können, so wenig verstand ich davon. Die Musikszene, so sagt man wohl, war ein Bereich des Teenagerlebens, der völlig an mir vorbeigegangen war.
Aber als sie da ihre seltsamen Verrenkungen machten, hob sich eine Gestalt sogleich von den übrigen ab, nicht weil sie besonders wohlgeformt gewesen wäre oder so – tatsächlich war sie die Dünnste von allen –, sondern weil sie im Gegensatz zu den anderen, die das Ganze sehr bewusst als Gruppenkonkurrenz wahrnahmen, total in die Musik versunken war. Sie wirkte so, als ob sie das auch gemacht hätte, wenn sie ganz allein irgendwo in der Wüste gewesen wäre.
Der Unterschied fiel schließlich sogar ihren Mittänzerinnen auf, und eine nach der anderen wurde langsamer und blieb stehen, bis sich nur noch diese eine Gestalt bewegte, rhythmisch, geschmeidig, wie in vollkommener Harmonie nicht nur mit der Musik, sondern auch mit dem Gras unter ihren Füßen, dem blauen Himmel über ihr und den sanft schimmernden Bäumen des fernen Waldes, der von meinem Gesichtswinkel aus gesehen den Hintergrund bildete. Anders als die anderen trug sie ein weißes Sommerkleid aus irgendeinem zarten Stoff, der sie umschwebte, während sie tanzte, und ihr langes goldenes Haar schlang sich um ihren Kopf wie ein Heiligenschein aus Sonnenstrahlen.
Ich war wie gebannt, wurde förmlich mit in Trance gezogen, versank darin. Ich wusste nicht, was das bedeutete, nur, dass es etwas ungeheuer Wichtiges für mich bedeutete. Ich wollte nicht, dass es aufhörte. Ich wollte einfach so da sitzen bleiben und dieser kleinen und noch gänzlich unbekannten Gestalt bis in alle Ewigkeit beim Tanzen zuschauen.
Dann sagte Johnny, der aufgewacht war, ohne dass ich es bemerkt hatte: »Ach du Schande, Imo schon wieder. Wenn die Musik hört, hüpft sie immer gleich los wie ein Gummiball!«
Sein Tonfall war nicht gehässig, aber das rettete ihn nicht.
Ich gab ihm eins auf die Nase. Ich dachte nicht mal darüber nach. Ich schlug einfach zu.
Eine Blutfontäne schoss heraus; eine von den Erwachsenen, die noch in der Nähe war – vielleicht war es Johnnys Mutter –, hatte gerade in unsere Richtung geschaut und schrie auf. Johnny saß da, stocksteif, und starrte auf seine hohle
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