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Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)

Titel: Rache verjährt nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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wirklich zur Kenntnis nahm.
    Wie gesagt, nach jener ersten Begegnung mit Sir Leon begrüßte er mich jedes Mal, wenn wir uns über den Weg liefen, mit »Wolf« und erkundigte sich stets ernsthaft, wie es dem Rest des Rudels ging. Ich knurrte dann irgendeine Antwort, wie Jungs das so machen. Einmal, als Dad mir sagte, ich sollte ordentlich reden, sagte Sir Leon: »Nicht nötig, Fred. Der Junge spricht Wolfssprache, und ich verstehe ihn bestens.« Dann knurrte er mir auch etwas zu und lächelte so breit, dass ich zurücklächeln musste, als hätte ich ihn verstanden. Danach begrüßte er mich jedes Mal mit einem Knurren und einem Grinsen.
    Selbstverständlich gab es zwischen uns Bauern und dem Schloss keinerlei soziale Kontakte, nicht mal im alten feudalen Sinne: Keine Weihnachtsfeiern für die Angestellten, keine Dorffeste auf dem Schlossgelände, nichts dergleichen. Sir Leon war ein guter und fairer Arbeitgeber, aber seine Frau, Lady Kira, meine liebe Schwiegermama, hatte zu Hause das Sagen.
    Kira stammte aus einer weißrussischen Emigrantenfamilie und vertrat auf gesellschaftlicher Ebene eine zaristischere Haltung als ihre Vorfahren. Ihrer Meinung nach waren Diener Leibeigene, und alles, was zu Vertraulichkeiten animierte, beeinträchtigte die Leistungsfähigkeit. Für sie umfasste die Bezeichnung »Diener« jeden in ihrer Umgebung. In ihren Augen gehörten wir alle zur selben Unterschicht, waren durch inzestuöse Ehen miteinander verwandt und vereint in unserer Bereitschaft zu betrügen, zu rauben und, falls sich die Gelegenheit bot, unseren Herrschaften Gewalt anzutun.
    Ich glaube nicht, dass die Leute sich die Mütze vom Kopf rissen oder das Stirnhaar glatt strichen, wenn Kira an ihnen vorbeikam, aber sie gab einem das Gefühl, dass man sich so verhalten sollte.
    Daher waren mein Dad und ich beide völlig verdattert, als Sir Leon mich eines Tages im Sommer einlud, hoch zum Schloss zu kommen, um, wie er es ausdrückte, »mit den jungen Leuten« zu spielen.
    Wie sich herausstellte, hatten sie ein paar Gäste zu Besuch, die mit insgesamt fünf Töchtern und einem Sohn angereist waren. Der Junge war in meinem Alter, und Sir Leon meinte, er brauche etwas männliche Gesellschaft, damit sein Geist nicht von dem »Weiberregiment« (erneut Sir Leons Formulierung) gebrochen werde.
    Ich hatte keine Lust dazu, aber Dad schaltete auf stur und sagte, ich müsste endlich gute Manieren an den Tag legen und Sir Leon wäre immer freundlich zu mir gewesen, und wenn ich dieses eine Mal nicht tun würde, was er wollte, dürfte ich für den Rest meiner Sommerferien nicht mehr tun, was ich wollte, um nur eine Drohung zu nennen, und so kletterte ich an einem strahlend sonnigen Nachmittag über die Begrenzungsmauer hinter Birkstane und spazierte durch den Wald zum Schloss.
    Für ein Schloss macht es nicht viel her, keine Zinnen oder Türme, nicht mal ein Wassergraben. Im Mittelalter war es mal eine richtige Burg, glaube ich, aber irgendwann zwischendurch wurde es ziemlich demoliert, keine Ahnung, ob durch Kanonenkugeln oder einfach als Folge von Verwahrlosung und Verfall, und als die Familie mit dem Wiederaufbau begann, verkleinerte sie es, wobei am Ende einfach nur ein großes Haus herauskam.
    Aber das ist jetzt meine Sicht als Erwachsener. Als ich an jenem Tag unter den Bäumen hervortrat, ragte das Gebäude so eindrucksvoll und riesig vor mir auf wie Schloss Windsor!
    Die Gesellschaft hatte sich auf dem Rasen vor dem Haus verteilt. Mit jedem Schritt, den ich tat, wurde mir klarer, dass die Sonntagssachen, die ich auf Dads Geheiß hin angezogen hatte, die völlig falsche Wahl gewesen waren. Alle trugen Shorts, Jeans und T-Shirts, nirgendwo war ein warmer Tweedanzug in Sicht. Ich wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen, doch da erspähte Sir Leon mich und kam mir entgegen.
    »Uarrg grrr«, sagte er in seiner vermeintlichen Wolfssprache. »Wolf, mein Junge, ich bin so froh, dass du gekommen bist. Du siehst aus, als würde dir eine schöne kalte Limonade guttun. Und zieh doch das Sakko und die Krawatte aus – dafür ist es heute ein bisschen zu heiß.«
    So sorgte er dafür, dass ich nicht mehr völlig lächerlich aussah, als er mich schließlich den »Kindern« vorstellte.
    Die Mädchen waren zwischen elf und fünfzehn Jahre alt und ignorierten mich mehr oder weniger. Der Junge, der anscheinend schlafend im Gras lag, rollte herum, als Sir Leon ihn mit dem Fuß anstupste, stützte sich auf einen Ellbogen und lächelte mich

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