Rache verjährt nicht: Roman (German Edition)
Vortag gesehen hatte. Imogen hatte ihnen vorgeschlagen, heute wandern zu gehen. Zwei der Mädchen hatten sich ausgeklinkt, als sie erfuhren, dass dies bedeutete, früh aufzustehen. Es verriet einiges über Imogens Überredungskünste, dass sie die beiden anderen trotzdem davon überzeugt hatte, mitzukommen. Noch aufschlussreicher war, dass Jules und Pippa bereit gewesen waren, sie zu decken, als sie ihnen kaum außer Sichtweite des Schlosses offenbarte, sie würde allein losziehen.
»Ich hab mit ihnen vereinbart, dass wir uns um fünf wieder treffen«, sagte sie. »Wir haben also jede Menge Zeit.«
»Für was?«, fragte ich albernerweise.
»Für alles, was du machen willst«, sagte sie erwartungsvoll. »Ich glaub, das könnte lustig werden. Jedenfalls viel besser als alles, was ich mit Jules und Pippa hätte machen können.«
Wie sich herausstellte, hatte sie sich bei Sir Leon und auch bei ein paar von den Einheimischen, die im Schloss arbeiteten, nach mir erkundigt.
Von ihnen hatte sie erfahren, dass ich in meiner Freizeit am liebsten durch die Gegend streifte und »allen möglichen Unsinn ausheckte«. Sie hatte die Geschichte von meinem Unfall gehört, meiner wundersamen Rettung und meinen späteren Großtaten bei der Bergwacht. Sie hatte außerdem erfahren, dass ich meistens in aller Herrgottsfrühe aufstand, weshalb sie sich einen Vorwand hatte einfallen lassen müssen, um früh aufzubrechen, sobald sie entschieden hatte, sich mir anzuschließen.
Das Problem war mir klar: Indem ich mir ihre Erklärung anhörte, geriet ich bereits in die Rolle des Mitverschwörers. Ich traute ihr durchaus zu, dass sie mir in einiger Entfernung folgte, falls ich mich hier von ihr trennte. Ich hätte versuchen können, sie zurück zum Schloss zu bringen, aber ich konnte sie ja wohl kaum dazu zwingen. Und eines wusste ich mit Sicherheit: Falls je herauskam, dass sie den Tag nicht mit ihren beiden Freundinnen verbracht hatte, würden meine Unschuldsbeteuerungen bei Lady Kira auf taube Ohren stoßen.
Also musste ich sie wohl oder übel mitnehmen. Am vernünftigsten schien mir, sie einige Stunden lang zu beschäftigen und vor allem dafür zu sorgen, dass sie ihre Verabredung mit den beiden anderen Mädchen einhielt.
»Na dann«, sagte ich. »Weiter geht’s.«
Wir standen auf. Ich sah, dass sie ihre Coladose auf dem Boden liegen gelassen hatte. Ich kickte mit dem Fuß dagegen. Sie schaute nach unten, sah mich an, überlegte einen Moment, grinste dann, hob die Dose auf und stopfte sie in ihren Rucksack.
Irgendwie freute es mich, dass sie mich als Boss anzuerkennen schien, und anstatt sie einfach die Hauptroute rauf zum Pillar zu führen, beschloss ich, mit ihr die High-Level-Route zu gehen, die sich über dem Ennerdale-Tal nach oben windet und schließlich über ein steiles Kletterstück auf der Rückseite des Pillar Rock zum Gipfel führt.
Das war ein böser Fehler. Sie hatte nämlich schon vom Pillar Rock gehört, weil der Bruder einer Freundin dort im Frühjahr abgestürzt war und sich beide Beine gebrochen hatte.
»Ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich. Ich kenn ein paar von den Jungs, die ihn runtergeholt haben. Sie meinten, er und seine Kumpel wären echte Angeber gewesen, die keine Ahnung hatten.«
»Meine Freundin sagt, ihr Bruder ist schon in den Alpen geklettert«, widersprach sie.
»Ach ja? So toll kann er ja wohl nicht gewesen sein, wenn er auf der Route abgestürzt ist«, erklärte ich ärgerlich, weil es mir nicht gefiel, dass das Urteil meiner Freunde von der Bergwacht angezweifelt wurde. »Das ist bloß ’ne kleine Kletterpartie. Du brauchst noch nicht mal ein Seil.«
Ich trug ein bisschen dick auf. Okay, die beliebteste Route zum Pillar Rock hat bloß den Schwierigkeitsgrad 3. Aber sie ist verdammt steil. Wenn du den Halt verlierst, fällst du tief. Nur echte Bergsteiger und echte Idioten gehen sie ohne Seil. Der Typ, den sie im Frühjahr da runtergeholt hatten, konnte von Glück sagen, dass er sich bloß zwei zertrümmerte Beine geholt hatte.
Sie sagte: »Bist du schon oben gewesen?«
»Zweimal.«
»Allein?«
»Klar.«
Das stimmte. Das erste Mal im Alter von zehn Jahren, und ich schätze, damals war ich ein echter Idiot gewesen. Ich war wie eine Spinne, huschte Felswände hoch, bei denen mir heute schwindelig wird, wenn ich bloß dran denke. Mir ist schleierhaft, wieso ich nie in Panik geriet und gerettet werden musste.
Nach meiner Bekanntschaft mit der Bergwacht wurde ich ein bisschen
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