Racheakt
schon einen neuen Bericht von den Kollegen? Wir müssen klären, ob der Täter den Zeh mitgenommen hat.«
»Hätten wir des bloß gestern schon gemerkt, dann hätte der Erkennungsdienst von Anfang an danach suchen können!«
»Dr. Pankratz meint, es habe so viel Moos auf ihren Füßen gelegen, dass wir das gar nicht sehen konnten – außerdem war das Drumherum schrecklich genug um uns von einem abgeschnittenen Zeh abzulenken«, tröstete Peter Nachtigall mit rauer Stimme den jungen Kollegen.
»Wir werden uns jetzt Herrn Grabert näher ansehen und dann entscheiden wir, wie es weitergeht. Ich würde vorschlagen, wir holen ihn uns hierher. Albrecht, rufst du März an? Ich muss schnell mit Jule telefonieren – heute wird sie wohl etwas später kochen müssen.«
Albrecht Skorubski erklärte dem zuständigen Staatsanwalt die Situation, legte dann rasch auf und rief: »Wir nehmen ein größeres Aufgebot mit. Zwei zivile Fahrzeuge. Nur für den Fall, dass er schon ahnt, dass wir ihn im Visier haben. Und wir wollen ihn nicht entwischen lassen. Geben Sie uns die Adresse in den Wagen durch!«
Eilfertig stürmte Kollege Wiener an seinen Schreibtisch zurück.
9
Nervös zupfte er einen weiteren Hautfetzen vom Rand seiner Unterlippe und vergrößerte damit die Wunde beträchtlich. Nur undeutlich, wie aus großer Entfernung, nahm er wahr, wie sich ein warmes, blutiges Rinnsal über sein wulstiges Kinn schlängelte. So etwas störte ihn schon lange nicht mehr.
Seit Stunden starrte er nun schon aus seinem winzigen Küchenfenster auf den Parkplatz an der Gelsenkirchener Allee hinunter. Inzwischen war er sich gar nicht mehr sicher, ob er sich, wenn sie endlich kämen, überhaupt noch würde bewegen können. Vielleicht war er ja erstarrt – wie Lots Weib. Die Geschichte hatte ihm schon immer am besten gefallen: Sodom und Gomorrha. Seine Großmutter hatte ihm jeden Abend aus der Bibel vorgelesen – wie lange das schon her war! Inzwischen lebte sie schon nicht mehr. War vielleicht ein Glück. So hatte sie von der Sache damals nichts mehr mitbekommen.
Eine grün – schillernde Fliege summte um seinen Kopf, flog weiter zum Fenster und versuchte dort so hartnäckig wie vergeblich in die Freiheit zu entkommen. Ungerührt sah er ihr zu.
Die Küchenuhr tickte zu laut.
Wo blieben die nur?
Solange konnte das doch nun wirklich nicht dauern, eine Akte zu finden! Im Zeitalter des Computers! Seit er es in den Nachrichten gehört hatte, wusste er, dass sie kommen würden. Nur eine Frage der Zeit.
Die kleine Reisetasche war gepackt, seine Wohnung aufgeräumt, der Müll runtergebracht.
Vor zwölf Jahren war er nicht so gut vorbereitet gewesen.
Damals hatte er sie unterschätzt.
Das lag lange zurück und er war nicht mehr derselbe.
Wieder zupfte er ein Hautstück von der Lippe. Mit dem Handrücken wischte er die Blutspuren vom Kinn und betrachtete das bräunliche Rautenmuster voller Interesse, als könne er darin seine Zukunft lesen.
Ruckartig riss er die blutverschmierte Hand hoch und zerquetschte die überrumpelte Fliege unter seinem mächtigen Daumen. Weiß quoll das Leben aus dem geplatzten Außenskelett. Den schmierigen Finger wischte er nachlässig an seiner 3XL-Hose ab und inspizierte danach flüchtig den Daumennagel.
Endlich.
Sie waren gekommen, um Günter Grabert zu holen.
10
»Sie haben von dem Mord am Madlower Badesee gehört?«, fragte Peter Nachtigall und zog sich einen Stuhl heran um sich gegenüber von Günter Grabert an den kleinen Tisch zu setzen.
Der dicke, kleine Mann mit dem blassen, teigigen Gesicht nickte. Ergeben. Dieses Wort tauche immer wieder in den Gedanken des Hauptkommissars auf. Ja, Günter Grabert nickte ergeben. Irgendwie erweckte alles an diesem Mann den Eindruck, sich ergeben zu haben. Seine Mundwinkel hingen tief nach unten, die Wangen waren schlaff, seine gesamte Körperhaltung wirkte, als hätte sie ihre Spannung verloren. Die verwaschene Jeans, die er trug, schlabberte um seine füllige Mitte und das Sweatshirt war mindestens zwei Nummern zu groß. Wegen seiner kurzen Arme hatte er die Ärmel zu dicken Stulpen aufkrempeln müssen und die Patschhändchen, die aus ihnen hervorsahen, rieben nervös über die drallen Oberschenkel. Der Mann hatte bestimmt 40 Kilo Übergewicht, schätzte Nachtigall. Abstoßend.
»Sie haben uns schon erwartet.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Schließlich hatte Günter Grabert
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