Racheakt
Verschwiegenheitspflicht entband, auf den Schreibtisch des Arztes, der nur einen flüchtigen Blick darauf warf und dann zustimmend grunzte.
»Aha«, sehr gesprächig schien der Arzt jedenfalls nicht zu sein. Nachtigall stöhnte innerlich auf. Heute war wohl nicht der Tag der Information – es sah eher so aus, als müsste er heute allen Leuten die gewünschten Auskünfte mühsam, gleichsam im Zweikampf abringen.
»Günter Grabert hat vor Jahren eine Sexualstraftat begangen. Er ermordete ein junges Mädchen. Er kam in den Maßregelvollzug und wurde vor zwei Jahren entlassen. Das Prognosegutachten erstellte Frau Dr. Jung. Sie therapiert seither seine Seele – und Sie Herr Dr. Schlehdorn therapieren ihn mit Androcur.«
»Sehr gut, Herr Nachtigall. Dann wissen Sie doch schon richtig gut Bescheid«, Sarkasmus stand ihm nicht. Er passte weder zur Stimme noch zum Auftreten. Er machte ihn alt und Nachtigall fand, er verzerre sein sonst so sympathisches Gesicht.
»Die Frage, die sich uns stellt, ist: Kann Günter Grabert eine ähnliche Straftat unter dieser Medikation begangen haben – oder ist er so außer Gefecht gesetzt, dass er dazu nicht mehr fähig ist?« Nachtigall versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen.
»Wer weiß schon, wozu ein Mensch fähig ist? Möchten Sie nicht auch manchmal einen Mord begehen? Kennen Sie das Gefühl eisiger Wut, die die Wahrnehmung vernebelt?«
Der Arzt schien sich plötzlich in seiner Pose nicht mehr wohl zu fühlen. Er gab den Blickkontakt zu Peter Nachtigall auf und stieß sich schwungvoll von der Schreibtischkante ab. Nachdenklich trat er ans Fenster und sah auf die ruhige Straße hinaus. Die beiden Ermittler starrten auf seinen breiten Rücken und Nachtigall bedeutete Michael Wiener zu schweigen und einfach abzuwarten.
»Tja – was soll ich nun dazu sagen? Das Prognosegutachten hat eine Gefährdung durch Herrn Grabert ausdrücklich verneint. Seine Therapeutin kann doch sicher mehr dazu sagen als ich.« Er drehte sich wieder um.
»Von mir bekommt er Androcur. Das ist richtig. Wahrscheinlich wissen Sie auch schon, dass das Medikament den Sexualtrieb stark dämpft, oft komplett unterdrückt. Es hat eine Reihe unangenehmer Nebenwirkungen – unter anderem kann es zu Depressionen führen, und es ermöglicht dem Täter seine Verbrechen als solche zu erkennen und gesellschaftlich angemessen zu beurteilen. Das bedeutet auch, dass der Patient schwere Schuldgefühle entwickelt. Aber wer kann schon in den anderen hineinsehen?« Er entfaltete seine Arme bis zur maximalen Spannweite und fuhr fort. »Ich kann nur zuhören und bewerten, was der Patient mir erzählt – und oft genug werde ich von meinen Patienten auch belogen. Sei es nun, was die Einhaltung von Diätvorschriften angeht oder private Berichte über Familienangehörige. Aber was Günter Grabert angeht, würde ich doch von einer erfolgreichen Dämpfung sprechen. Er will sich selbst trauen können, will sicher sein nie mehr zu morden oder zu verletzen, ja er will sogar sicher sein nie mehr von solchen Taten zu fantasieren – dafür nimmt er die Nebenwirkungen in Kauf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass von ihm eine Gefahr für junge Mädchen ausgeht. Seine Therapeutin spricht regelmäßig mit mir über den Therapiefortschritt und ich denke wir sind uns da in der Bewertung des Falles sehr einig.«
»Gut. Das wär’s dann auch schon. Vielen Dank Herr Dr. Schlehdorn.«
Die beiden Beamten wollten sich gerade verabschieden, da drehte sich Peter Nachtigall plötzlich noch einmal um und wollte wissen, wann denn die nächste Spritze Androcur fällig sei.
»Spritze? Wieso Spritze? Herr Grabert bekommt Tabletten – und soweit ich weiß, reichen die noch für ein paar Wochen.«
»Was!«
»Ja. Er nimmt schon seit mehr als einem Jahr Tabletten. Warum erschreckt Sie das so? Das ist genauso wirksam, keine Sorge«, erklärte der Arzt leicht irritiert.
»Warum weiß Frau Dr. Jung das nicht?«
»Vermutlich habe ich vergessen es ihr zu erzählen.« Dr. Schlehdorn zuckte mit den Schultern. »Hören Sie, es ist egal, ob er nun Tabletten nimmt oder eine Spritze bekommt – das Medikament wirkt. Und in Form von Tabletten ist es einfacher für den Patienten. Herr Grabert wollte in Urlaub fahren und hätte während seines Aufenthalts am Urlaubsort einen Kollegen aufsuchen müssen, der ihm die Spritze verabreicht hätte. Das war umständlich und auch ein bisschen peinlich, wie sie sich vielleicht vorstellen können. So haben
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