Racheakt
Gesprächsprotokoll, er habe selbst bemerkt, dass das Organ nicht mehr einwandfrei funktionierte, das Herz schlug »zu laut«, seine Sehkraft ließ nach, einmal gab er auch an seine Beine seien schwächer geworden – in einem anderen heißt es, er habe angegeben, die Außerirdischen sendeten ihm ein unmissverständliches Signal. – Und das würde ja bedeuten, dass er sich mit ihnen in ständigem Kontakt glaubt. Ihre Anregung im Bezug auf die verschwundenen Säugetiere werde ich überprüfen lassen.«
»Haben sie auch eine gründliche, körperliche Untersuchung durchgeführt? Vielleicht auch an einem Mithäftling, zu dem er möglicherweise ein enges Verhältnis hat?«, schaltete sich Frau Dr. Jung ein.
»Nein, noch nicht. Es erschien mir nicht so dringlich.«
»Falls es ihm nur um den reinen Kannibalismus geht, ist er vielleicht umgestiegen auf Autokannibalismus. Dann werden sie viele Stellen an seinem Körper finden, die von Selbstverletzungen stammen. Kleine oder große, vernarbte und frische. Sollte er aber wirklich an seine Story glauben, wäre es auch möglich, dass er einem Mithäftling ein bisschen Fleisch herausschneidet um seine Körperteile daraus erstarken zu lassen oder so ähnlich. Vielleicht ist ihm einer der anderen hörig oder völlig unterlegen.«
»Auch das ist gut möglich. Wenn er sich selbst verletzt, muss er freilich eine neue Geschichte dazu erfinden.«
»Ich habe einen Patienten, der seine eigenen Organe verspeisen wollte. Aber bei ihm war dieser Autokannibalismus mit sexueller Erregung verbunden. Er träumte auch manchmal davon getötet zu werden und vom Täter aufgegessen zu werden – ähnlich wie das Opfer dieses Internetkontakts über das Prof. Lund gesprochen hat. Er konnte sich kaum noch von dem Gedanken befreien und schließlich tötete er selbst, zerstückelte die Leiche und aß vom Fleisch des Toten. Autokannibalismus kann also in Kannibalismus umschlagen – vielleicht kann sich auch Kannibalismus in Autokannibalismus verkehren. Möglich.«
»Ich werde ihn mir gründlich ansehen. Vielleicht hat er die sexuelle Komponente nur hartnäckig verschwiegen – ich werde da nachhaken.«
Es war doch wirklich nicht zu glauben, dachte Frau Dr. Jung, lehnte sich diskret zurück und ließ die Stimmen der anderen als Hintergrundgeräusch vorbeiziehen, Dr. Schlehdorn hat Günter Grabert auf Tabletten umgestellt und sie wusste nichts davon. Nun schrieb der Hausarzt nur noch alle sechs Wochen ein Rezept aus. So ein Mist! Auf ihre Frage hatte sie auch erfahren, dass der Kollege seinen Patienten oft gar nicht zu Gesicht bekam, wenn der das Rezept abholte. Günter Grabert rief nur an und fuhr später vorbei um sich von Anneliese das Rezept aushändigen zu lassen. Du liebe Zeit! Da blieb nur zu hoffen, dass er jetzt wenigstens für die Tatzeit des zweiten Mordes ein Alibi vorweisen konnte.
Natürlich fühlte sie sich durch diese Eigenmächtigkeit von Dr. Schlehdorn etwas verletzt und sie hätte auch gerne gewusst, warum ihr Patient ihr nie von der Umstellung auf Tabletten erzählt hatte – aber an ihrer Einstellung zu Günter Grabert hatte sich durch diese neue Entwicklung nichts verändert: Sie war von seiner Unschuld fest überzeugt. Er hatte diese schrecklichen Morde nicht begangen, das lag gar nicht mehr im Bereich des Vorstellbaren!
»Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen?«, brachte eine energische Stimme die Therapeutin unsanft wieder in die Realität zurück.
»Ein Mineralwasser, danke«, antwortete sie mechanisch, setzte sich aufrecht hin und versuchte sich wieder auf das Gespräch am Prognosestammtisch zu konzentrieren.
»… und dann bemerkte er, dass es ihn sexuell erregte, wenn die Mädchen ihn bissen – also legte er es bei Raufereien immer so an, dass die Mädchen sich aus seiner Umklammerung nur noch befreien konnte, wenn sie ihn kraftvoll bissen: in den Arm oder die Hand zum Beispiel.«
Frau Dr. Jung seufzte.
Ihr ging das Gespräch durch den Kopf, das sie am Morgen mit einem Täter aus dem Maßregelvollzug geführt hatte.
»Das Beste ist die Jagd«, hatte der hagere hoch aufgeschossene Mann erklärt. »Ich sitze da, zwischen all diesen Mädchen und die tun so, als gäbe es mich gar nicht. Sie glauben ja gar nicht, wie einfach es heutzutage ist nicht aufzufallen. Sie plappern munter weiter über ihre kleinen Problemchen mit Mutti oder Papi, der besten Freundin. Und keine von denen weiß, dass ich ihr eigentliches Problem bin. Wenn sie sich an irgendeiner Ecke
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