Rachedurst
Sie?«
»In Ihrer Stadt.«
»Tut mir leid, das zu hören«, erwiderte Joe in dem Wissen, dass Portenson seit drei Jahren aus dem Mittleren Westen an einen interessanteren Ort versetzt werden wollte, irgendwohin, wo es Gangster und organisiertes Verbrechen gab, vielleicht sogar Terroristen. Im Laufe der Jahre hatte Portenson ihn immer wieder mit dem Gejammer gelangweilt, welch lausige Verbrechen er in Cheyenne aufzuklären habe: Rinderdiebstahl, Methamphetamin-Labore, Eifersuchtsmorde im Indianerreservat Wind River.
»Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, fragte Portenson.
»Ich bin im Gelände und zähle Rotwild.«
»Mein Gott, dabei möchte ich natürlich keinesfalls stören.«
Joe hörte Portenson â wohl zu einem Kollegen â mit nur teilweise verdecktem Hörer sagen: »Der Kerl zählt Rotwild. Im Ernst: Er zählt Rotwild .«
»Und Pronghorns«, versetzte Joe.
»Die können warten. Die laufen Ihnen schon nicht davon, da bin ich mir sicher.«
»Das sind die zweitschnellsten Säugetiere der Erde«, erwiderte Joe ungerührt.
»Ich sitze in diesem aufgebrezelten Schnellrestaurant«, fuhr Portenson fort, »Sie wissen schon. Kommen Sie in zehn Minuten hin.«
»Ich brauche zwanzig.«
»Dann bestell ich in der Zwischenzeit Frühstück.«
***
Tony Portenson saà in einer Nische im hinteren Teil des Restaurants. Als Joe eintrat, sah er von einem Teller mit Gebäck, BratensoÃe und Schinkenspeck auf und winkte ihn heran. Portenson war ein eher dunkler, kräftiger Typ mit eng beieinanderstehenden Augen, der aufgrund einer Narbe an der Oberlippe ständig zu grinsen schien. Lächelte er tatsächlich mal, sah das noch übler aus. Ihm gegenüber saà ein ernster, jüngerer Mann mit glattem Gesicht, breiten Schultern und extrem kurzem Haar, vermutlich sein Kollege.
»Setzen Sie sich, Joe«, sagte Portenson und gab ihm die Hand. »Das ist Special Agent Gary Child.«
Statt sich zu Portenson oder Child zu setzen, nahm Joe einen Stuhl vom nächsten Tisch und zog ihn heran.
Portenson trug die übliche FBI -Kleidung â Schlips, Jackett, Stoffhose â und fiel damit in Saddlestring auf, als trüge er einen Raumanzug.
»Das ist der Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte er zu Child.
Der nickte und musterte Joe mit einer Mischung aus Bewunderung und Verachtung. Die Geringschätzung des FBI für die Ordnungshüter vor Ort war so tief verwurzelt, dass man sie institutionalisiert nennen konnte. Obwohl Joe nur selten, und nur am Rande, mit dem Sheriffbüro und den Stadtpolizisten zu tun hatte, galt er als Einheimischer und damit als nicht wirklich sachkundig. Portenson hatte Child offenbar über die beiden Fälle unterrichtet, bei denen sie bisher zusammengearbeitet hatten, und zwischendurch vermutlich immer wieder über den Wind und den Schnee gejammert, mit denen er sich während seiner langen Dienstzeit in Wyoming herumzuschlagen hatte.
»Und«, fragte Portenson, während sich alle setzten, »welches ist das schnellste Säugetier?«
»Der Gepard«, sagte Joe.
»Der kann also ein Pronghorn zur Strecke bringen?«
»Möglicherweise, doch dafür müsste er auf dem gleichen Kontinent leben.«
» Hmmmh .«
»Was führt Sie her, Tony«, fragte Joe in der Annahme, es ginge entweder um die Scarletts oder um â¦
»Haben Sie Ihren Kumpel Nate Romanowski in letzter Zeit gesehen?« Portenson kam direkt zur Sache.
Joe spürte ein Kribbeln im Nacken. »Nein.«
»Soll das heiÃen, er ist einfach von der Erdoberfläche verschwunden?«
»Das hab ich nicht gesagt. Aber ich habe ihn nicht gesehen. Und ehe Sie danach fragen: Ich habe auch nichts von ihm gehört.«
Portenson und Child tauschten einen Blick.
»Lassen Sie mich die Lage zusammenfassen«, sagte Child. »Zwei Männer wurden ermordet. Zwar sind die Leichen fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt, doch unser Rechtsmediziner ist der Auffassung, dass beide durch einen Kopfschuss aus einer groÃkalibrigen Handfeuerwaffe getötet wurden. Dabei handelt es sich beim Fundort der Leichen offensichtlich nicht um den Tatort. Ihr Freund Nate Romanowski besitzt bekanntlich einen .454er Casull und war mit mindestens einem der Ermordeten zerstritten. Und Ihnen zufolge ist er einfach verschwunden?«
Joe unterdrückte ein Lächeln.
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