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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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verschwinden.
    Vielleicht einen Kilometer war sie halb marschiert, halb gelaufen, immer den Schotter der Autobahn zur Rechten und das Wasser zur Linken, als sie die Sirenen hörte. Just in diesem Moment kam sie an einer Reihe von Stahlskeletten vorbei, es waren mehrere im Bau befindliche Gebäude.
    Galya drückte sich durch eine Lücke des Zauns, den man um das Baugrundstück herum errichtet hatte. Vier Stockwerke hoch ragten die Träger über ihrem Kopf auf. Sie hielt sich am Rand des Terrains und schaute angestrengt zu Boden, damit sie nicht in irgendein Loch fiel. Vor jedem Schritt, den sie tat, tastete sie mit den Zehen die Erde und Steine ab. Je weiter sie die Straßenlaternen hinter sich ließ und auf das Baugelände vordrang, desto weniger konnte sie sehen.
    Auf dem Nachbargrundstück, jenseits des Sperrholzzauns,stand eine Kirche. Kein Licht drang aus ihren bogenförmigen Fenstern nach draußen. Galya lief am Zaun entlang, bis sie das andere Ende des Geländes erreichte und eine mit einem Vorhängeschloss und einer Kette gesicherte Tür entdeckte. Sie drückte dagegen, und ein wenige Zentimeter breiter Spalt öffnete sich. Galya hockte sich hin. Ihre schmale Schulter passte zwar durch den Spalt, aber mit dem Kopf blieb sie darin stecken. Das raue Holz zerschrammte ihr die Wange. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das Hindernis und zwängte ihren Kopf hindurch. Splitter stachen ihr ins Ohr, und ihr entfuhr ein kurzer Schrei, als sie an die schroffen hölzernen Kanten Haut und Haare verlor. Endlich konnte sie auch die zweite Schulter hindurchzwängen. Sie ließ sich fallen und schlängelte ihren Oberkörper und die Hüften zwischen den Brettern hindurch. Am liebsten hätte sie sich jetzt einen Augenblick ausgeruht, aber es war bitterkalt.
    Also rappelte sie sich mühsam wieder hoch. Schließlich hatte sie ihre Gliedmaßen wieder unter Kontrolle, und das unkontrollierte, krampfhafte Zucken ließ fürs Erste nach.
    Auf der anderen Seite stand ein etwa dreieihalb Meter hoher Zaun, dahinter befanden sich ein Parkplatz und ein neu aussehender Wohnblock. In einigen der Wohnungen brannte Licht. Ob sie wohl dort läuten und darum bitten konnte, das Telefon benutzen zu dürfen? Vielleicht. Aber wie würden die Leute auf das seltsame ausländische Mädchen reagieren, das sie so früh am Morgen störte? Eine Telefonzelle wäre besser.
    Tag und Nacht, hatte er gesagt.
    Der freundliche Mann.
    Am Ende der Straße sah Galya einen Wagen mit beschlagenen Fenstern stehen, der von einer Laterne beschienen wurde. Die Vorderräder standen auf dem Bürgersteig, nahe an einem offenen Tor.
    Los, befahl Galya sich. Wenn sie sich nicht bewegte, würde die Kälte wieder an ihr zu nagen beginnen. Sie lief auf das Tor zu. Beijedem Schritt brannten ihre Fußsohlen. Der Himmel mochte wissen, in was für einem Zustand die sich inzwischen befanden. Darüber mache ich mir später Gedanken, dachte Galya. Erst einen Unterschlupf finden und Hilfe.
    Am Ende der umzäunten Straße befand sich eine Schranke. Einsam stand das alte Gebäude dahinter und trotzte den neuen Wohnblöcken, die ringsherum aus dem Boden schossen. Über der Tür hing ein Schild, das Guinness anpries. Von drinnen war nichts zu hören.
    Als sie sich dem Wagen näherte, sah sie, dass die Schnauze einen Kabelkasten am Fuß der Laterne gerammt hatte. Die Hintertür schien nicht ganz geschlossen zu sein. Stand sie etwa offen? Vielleicht konnte Galya ja heimlich hineinkrabbeln und eine Weile der Kälte entkommen.
    Es war ein alter Wagen, kastenförmig und verbeult. Solche hatte sie früher auch in ihrem Dorf gesehen, zusammengehalten nur noch von Rost und Hoffnung. Galya langte nach dem Griff. Die Scheibe war innen beschlagen. Galya schluckte einmal, zog am Griff und machte einen Schritt zurück.
    In Embryonalstellung lag ein schnarchender Mann auf der Rückbank. An die Brust hielt er eine längliche Flasche gedrückt. Vom kalten Luftzug aufgestört, schnaubte er und zog sich einen Mantel bis über die Nase. Aus dem Wagen wehte warme, von schalem Alkoholgestank geschwängerte Luft.
    Galya vermutete, dass der Mann die Bar verlassen und vorgehabt hatte, nach Hause zu fahren, dann aber nicht weiter gekommen war als bis hierhin. Vom Suff besiegt, hatte er sich auf die Rückbank gelegt, um seinen Rausch auszuschlafen. Weil er eher kurz geraten war, hatte er nicht einmal die Beine besonders weit anziehen müssen.
    Und er hatte kleine Füße.
    Galya untersuchte seine Joggingschuhe.

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