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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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ihren Alpträumen war Ellen in den ersten Monaten nach dem Tod ihrer Mutter so still gewesen, als sei sie nur der Schatten eines Kindes. Stundenlang hatte Lennon bei ihr gesessen und versucht, sie zum Reden zu bringen, war aber immer nur auf artiges Schweigen gestoßen.
    Gelegentlich nahm sie immerhin seine Hand. Zuerst nur selten, aber im Laufe der Zeit dann doch immer häufiger. Oft hatte er dabei das Gefühl, dass es ihm mehr half als ihr.
    In den Wochen nach Maries Tod hatte er sich selbst kaum ins Gesicht sehen können. Es kostete ihn fast körperliche Überwindung,sich nicht immer und immer wieder dieselbe Frage zu stellen. Was wäre gewesen, wenn er Marie und Ellen damals nicht in der Wohnung in Carrickfergus alleingelassen hätte?
    Lennon hatte einige Sitzungen bei einem Psychologen absolviert, den die Polizei ihm besorgt hatte. Gemeinsam mit ihm hatte er nach möglichen Antworten gesucht, aber keine davon hatte ihm geholfen. Wäre er dagewesen, als der Mörder das Kind und seine Mutter verschleppte, hätte Lennon sie dann beschützen können? Vielleicht. Vielleicht wäre er aber auch selbst getötet worden, und man hätte sie trotzdem entführt. Dann war da die Frage, ob Lennon verraten worden war. DCI Gordon hatte ihn aus der Wohnung wegbeordert und war dann zwei Stunden später ermordet worden. Hatte Gordon seine Finger im Spiel gehabt? Hatte er Lennon eine Falle gestellt und war dann seinerseits hintergangen worden? Falls es so war und Lennon Marie und Ellen nicht allein gelassen hätte, hätte der Mörder sie dann trotzdem angegriffen? Oder hätte er abgewartet, bis sie schutzloser waren?
    Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, war, als wolle man fallenden Regen mit den Händen auffangen. Für jeden Tropfen, der in einer Handfläche landete, fielen tausend andere auf die Erde. Bald wurde deutlich, wie sinnlos das alles war. Was passiert war, konnte Lennon nicht mehr rückgängig machen. Stattdessen würde er Ellen ein so gutes Leben bieten wie nur irgend möglich.
    Am Anfang war es noch erträglich. In gewisser Weise war Ellens Schweigen sogar eine Erleichterung, obwohl Lennon wusste, wie feige es von ihm war, so zu empfinden. Aber dann kam die Wut. Stiebende Funken, wie Blitze aus heiterem Himmel. Jede Kleinigkeit konnte das Kind zur Explosion bringen. Wenn sie mit einer Puppe spielte und die nicht so sitzen blieb, wie Ellen sie hingesetzt hatte, schrie sie und biss und trat um sich. Manchmal machte sie in ihrem Jähzorn Sachen kaputt, ganz gleich, ob sie ihr gehörten oder ihrem Vater. Jedes Mal verlosch das Feuer so schnell, wie esaufgelodert war, und danach war Ellen wieder, als sei nichts geschehen.
    Um diese Zeit war es auch, dass Maries Tante Bernie McKenna anzurufen begann. Eine verhärmte alte Jungfer, die sich nicht einmal ein Lächeln abgerungen hätte, wenn Gott selbst herniedergefahren und ihr einen Witz erzählt hätte. Lennon stimmte ihrer Bitte zu, Ellen sehen zu dürfen, denn er fand, der Kontakt zu ihrem erweiterten Familienkreis könne der Kleinen nur guttun. Keine Sekunde lang hätte er geglaubt, Bernie werde daraufhin in betont unschuldigem Tonfall vorschlagen, dass das Kind bei seinen Verwandten mütterlicherseits besser aufgehoben sei. Wie denn er, ein alleinstehender Mann, ein kleines Mädchen aufziehen wolle? Nicht, dass sie schlecht von ihm denken würden, wenn er sie weggab, natürlich nicht, aber ein Mann sei nun mal ein Mann, und bei seinen unregelmäßigen Arbeitszeiten als Polizist, wie solle Ellen denn da irgendeine Stabilität bekommen?
    Bis an sein Lebensende würde Lennon es nicht zugeben, aber tief im Inneren fragte er sich manchmal tatsächlich, ob Bernie McKenna nicht vielleicht recht hatte. Schließlich hatte er Ellen ja schon im Stich gelassen, als sie noch im Mutterleib gewesen war, und in den ersten sechs Jahren ihres Lebens hatte er keinen Kontakt zu ihr gehabt. In solchen Momenten erinnerte er sich jedes Mal daran, dass sie die einzige Verwandte war, die er noch hatte. Zumindest die einzige Verwandte, die seine Existenz zur Kenntnis nahm, denn seine Mutter und Schwestern hatten ihn verleugnet, als er damals Polizist geworden war.
    Nein, er würde seine Tochter nicht hergeben. War das selbstsüchtig von ihm? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber es war das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, als er sie aus jenem brennenden Gebäude getragen hatte, dem Haus, in dem ihre Mutter umgekommen war. Und dieses Versprechen würde er halten.
    Schlotternd sah

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