Racheengel
Lennon zu, wie der Fotograf dem Forensikerhalf, das Zelt aufzubauen, eine weiße PVC-Folie über einem Alurahmen. Zu zweit brauchten sie weniger als eine Minute und eine weitere, um es mit Heringen zu sichern.
Er trat zu der offenen Zeltklappe und bückte sich hinein. Durch das durchscheinende Dach der Plane drang das Licht der Straßenlaternen herein. Lennon stand über der Leiche und kam sich vor wie ein Trauergast bei irgendeiner seltsamen Beerdigung.
Wer würde wohl um Tomas Strazdas trauern, fragte er sich.
11
»Mein Name ist Galya Petrowa«, sagte sie. »Bitte helfen Sie mir.«
»Wo bist du?«, fragte der Mann.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Unter einer Brücke. Irgendwo am Wasser.«
»Schau dich um.«
»Es gibt ein großes Gebäude«, sagte sie. »Aus Glas und Metall. Rot gestrichen. Auf der Brücke kann ich Autos hören. Überall sind Kräne und Zäune.«
»Verstehe«, sagte er. »Das ist das Gebäude der Royal Mail. Rühr dich nicht vom Fleck. Bleib unter der Brücke. Halt dich im Dunkeln. Ich finde dich schon.«
Galya kamen die Tränen. »Danke«, sage sie und legte auf. Sie zog sich noch weiter in die Dunkelheit zurück und drückte das Telefon an ihre Brust wie ein Neugeborenes.
Erst heute Nachmittag – nein, gestern Nachmittag – war Rasa in das Schlafzimmer gekommen, in dem man Galya schon seit fast einer Woche festgehalten hatte. Sie hatte Galya erklärt, heute werde sie mit der Arbeit anfangen.
Galya wusste, was für eine Sorte Arbeit gemeint war.
Rasa hatte auf dem Bett Unterwäsche ausgelegt, winzige durchsichtige Fetzen, und ein paar Schuhe auf den Boden gestellt. Es waren Plateauschuhe mit so hohen Hacken, dass Galya unmöglich darin hätte laufen können.
»Zieh dich aus!«, verlangte Rasa in gestelztem Russisch. »Zieh das hier an!«
»Nein.«.
Rasa lächelte auf die müde und doch geduldige Weise, wie Eltern es bei einem begriffsstutzigen Kind machten. Galya schätzte, dass sie zwanzig Jahre älter war als sie selbst, vielleicht auch noch älter. Das Gesicht trug die Falten von Alter und Tabak. Rasa war gekleidet wie eine Geschäftsfrau, die sich nach jüngeren Männern sehnte. »Sei nicht kindisch«, sagte sie. »Du willst doch hübsch aussehen für deinen Freier, oder etwa nicht?«
Galya drückte sich an die Wand.
»Der Gentleman, der dich sehen will. Er wird bald da sein.«
»Wer ist es?«, fragte Galya.
»Niemand Spezielles«, sagte Rasa. »Einfach nur ein netter Mann.«
»Was will er?«
Rasa lachte und setzte sich ans Fußende des Bettes. »Das musst du schon selbst herausfinden. Und was immer er will, du wirst es für ihn tun.«
»Ich mache gar …«
»Was immer er will«, wiederholte Rasa. Ihre Stimme war so hart wie alte Knochen, die knarzten. »Komm her. Setz dich neben mich.«
Galya drückte ihre Schultern an die Wand und stemmte sich mit den Füßen ab. »Ich will nicht.«
»Setz dich«, befahl Rasa. »Sofort.«
Galya trat ans Bett und ließ sich auf die Matratze sinken, behielt aber einen guten Meter Abstand zwischen sich und der anderen. Die Augen hielt sie weiter gesenkt.
»Bist du noch Jungfrau?«, fragte Rasa.
Galya wurde rot.
»Bist du noch?«
Galya kaute auf ihrer Lippe.
»Antworte!«, verlangte Rasa.«
»Nein«, sagte Galya.
»Einer?«, fragte Rasa.
Galya starrte die Wand an.
»Zwei Männer? Noch mehr?«
»Zwei«, sagte Galya und noch während sie es aussprach, wunderte sie sich selbst, warum sie die Wahrheit sagte. »Zu Hause gab es da einen Jungen. Wir waren noch sehr jung. Es war in einem Feld, nicht weit von Mamas Haus. Es ging so schnell, dass er fertig war, kaum dass er angefangen hatte, und dann ist er weggelaufen. Er hat nie mehr mit mir gesprochen. Zwei Wochen habe ich nicht geschlafen. Erst wieder, als das Blut kam.«
Rasas Stimme und Miene wurden sanfter. »Und der zweite Mann?«
»Aleksander«, sagte Galya. Sie wandte sich Rasa zu und schaute ihr ins Gesicht. Falls Rasa den Namen erkannte, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. »In Kiew. In der Nacht, bevor wir nach Wilna geflohen sind. Er hat mir erzählt, ich würde in Dublin bei einer netten russischen Familie wohnen, ich würde mich um ihre Kinder kümmern und …«
»Und was?«
Beinahe rutschte Galya heraus, dass sie ihnen hatte Englisch beibringen sollen. Das war es, was Aleksander ihr erzählt hatte, während sie viele Kilometer weit von ihrem Dorf nahe der russischen Grenze bis in die ukrainische Hauptstadt gefahren waren. Aleksander hatte von dem Leben
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