Racheherz - Roman
können, ohne sich ringsum mit Leibwächtern zu umgeben. Da er Wert darauf legte, ein normales Leben zu führen und sich seine Freiheit so weit wie möglich zu bewahren, forderte Ryan Motts bewaffnete Begleiter nur dann an, wenn es unbedingt nötig war.
In diesem speziellen Fall riet ihm die Vernunft, sich Unterstützung herbeizuschaffen, wohingegen sein Instinkt ihm sagte, er müsse sich der Situation allein stellen. Sein Instinkt und ein verspätetes Eingeständnis der Wahrheit sagten ihm aber auch, dass er durch sein eigenes Vorgehen die vielen Zukunftsmöglichkeiten auf dieses eine Aneurysma im Zeitstrom eingeengt hatte und dass das Schicksal ihm entweder hier ein Ende bereiten oder ihm noch eine Chance geben würde. Nur er selbst konnte sich retten.
Er öffnete ein weißes Tor in einem weißen Lattenzaun und lief unter einem Spalier durch, das mit Bougainvillea in ihrem weniger flammenden Winterkleid bewachsen war, aber selbst das wies noch eine beeindruckende Menge von leuchtenden blutroten Blüten auf. Ein gepflasterter Gehweg führte zu einer Veranda, an deren Seiten Trompetenblumen hochrankten.
Ryan hatte eine Firma mit der Gartenpflege beauftragt. Wenn er es Jimmy überlassen hätte, wäre der Rasen tot und alles andere derart verwildert und überwuchert, dass es sich gerade noch als Kulisse für den dritten Akt von Der kleine Horrorladen geeignet hätte.
Die Haustür war angelehnt. Er klingelte nicht, sondern stieß die Tür auf und trat ein.
Er kam selten hierher und deshalb überraschte ihn die Zeitschleife, die ihn schon immer deprimiert hatte. Im Rest der Welt war das Zeitalter des Wassermanns weitgehend vorübergegangen, aber hier waren die Uhren 1968 stehen geblieben. Die psychedelischen Poster, die Erinnerungsstücke an Grateful Dead, hier Sly and the Family Stone, dort Hendrix und Joplin, hier Jefferson Airplane, Peace-Zeichen in Leuchtfarben, das Porträt des Vorsitzenden Mao, Bambusrollos an den Fenstern, flankiert von Batikvorhängen, und natürlich die Wasserpfeife auf dem Couchtisch.
Jimmy saß auf dem Sofa und Lilys Schwester Violet stand mit einer Pistole mit Schalldämpfer vor ihm.
Als er Ryan sah, sagte sein Vater: »Scheiße, Mann, du hast dir ganz schön Zeit gelassen. Wir haben hier ein Problem. Was auch immer du getan hast, um es herbeizuführen, wirst du auf der Stelle rückgängig machen, denn dieses Miststück ist komplett durchgeknallt und meint es tierisch ernst.«
Mit dreiundsechzig hatte Jimmy zwar eine Stirnglatze, aber am Hinterkopf noch genug Haare für einen Pferdeschwanz. Er trug ein Stirnband wie die, die Pigpen von den Grateful Dead getragen hatte, einen Schnurrbart wie David Crosby und Perlen, die angeblich mal Grace Slick gehört hatten. Das Einzige an ihm, das keine Nachahmung war, waren seine Augen. Sie wirkten wie Brandlöcher, in die Wasser
und Asche gesickert war, das Nachspiel eines Feuers, voller kindlicher Berechnung, Not und stiller Verzweiflung. Rastlose Augen, deren Anblick Ryan nur ertrug, wenn sein Alter so stoned war, dass die Furcht und der Groll und die Verbitterung zeitweilig in chemischer Wonne ertranken.
»Bamping«, sagte Violet.
Als er eine Bewegung hörte, drehte er sich um und sah einen Mann aus dem Flur ins Wohnzimmer kommen. Er war Asiate, so groß wie Ryan und hatte eine eigene Pistole.
Violet deutete auf Jimmy und sagte zu Bamping: »Bring ihn in sein Schlafzimmer und sorg dafür, dass er sich ruhig verhält, bis das hier erledigt ist.«
»Ich will da nicht wieder hin«, sagte Jimmy. »Ich will nicht mit ihm gehen.«
Violet hielt Jimmy die Mündung des Schalldämpfers an die Stirn.
»Dad«, sagte Ryan. »Tu, was sie wollen.«
»Die können mich mal am Arsch lecken«, sagte Jimmy. »Faschistenschweine.«
»Sie wird dir das Gehirn rauspusten, Dad. Was könnte er dir antun, das noch endgültiger wäre?«
Jimmy fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und die Schnurrbartfransen, die darüber hingen, und erhob sich schwankend vom Sofa. Er war ein dürres Wrack. Der Hosenboden seiner Jeans sackte herunter, weil von seinem Hintern nichts mehr übrig war, und an seinen Unterarmen, die aus dem T-Shirt herausschauten, war kaum mehr dran als an seinen Ellbogen.
»Sie macht das hier noch schlimmer für mich«, sagte Jimmy zu Ryan. »Das Miststück will mich keinen Joint rauchen lassen. Bring sie dazu, dass sie mich rauchen lässt.«
»Ich stelle hier nicht die Regeln auf, Dad.«
»Das ist dein Haus, oder etwa nicht?«
»Dad, geh mit
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