Racheherz - Roman
sagte Sam.
»Sie ist die Beste. Allerdings fragt sie sich, warum sie ausgerechnet mich abkriegen musste, statt eines Kindes, das den ganzen Tag lang den Ball für sie werfen würde.«
»Ich bin sicher, dass sie dich anhimmelt.«
»Ja, das schon, weil ich der mit den Hundekuchen bin.«
Ryan nahm sie so selbstverständlich an der Hand, dass es schien, als hätten sie sich nie getrennt. Tinker führte sie hinaus, um das Gebäude herum und eine Außentreppe zu einer Veranda im ersten Stock hinauf.
Seine Wohnung war kleiner als die, in der sie auf der Halbinsel Balboa gewohnt hatte: Küche und Wohnzimmer
waren gemeinsam in einem beengten Raum untergebracht und das Schlafzimmer war wirklich winzig.
Das Mittagessen bestand aus kaltem Huhn, Käse und Kartoffelsalat - »Mein Kartoffelsalat haut jeden um« -, frischen Tomaten und Gurken. Ryan und Sam deckten gemeinsam den Tisch auf der Veranda.
Im Gegensatz zu der Veranda, die sie auf Balboa gehabt hatte, wurde diese hier nicht allseits von einem Pfefferbaum umrahmt, doch sie hatte ein Dach und bot einen Ausblick auf das rautenförmige Infield eines Baseballfeldes und eingezäunte Weiden im Hintergrund.
»Wie läuft das Buch?«, fragte er.
»Es verkauft sich noch schneller als die vorherigen.«
»Fantastisch. Ich habe es dir doch gleich gesagt. Oder etwa nicht? Du kannst mehr als nur einen einmaligen Hit landen.«
Sie redeten über den Buchmarkt, darüber, was sie jetzt schrieb, und über St. Christopher’s, wobei es ihr so schien, als könne er tagelang darüber reden, ohne seinen Vorrat an bezaubernden Anekdoten jemals zu erschöpfen.
Sie war gekommen, weil sie sehen wollte, ob es ihm gut ging und ob er glücklich war, denn beides war ihr sehr wichtig. Wenn jemand den außergewöhnlichen Schritt unternahm, sein gesamtes Vermögen zu verschenken, musste man sich Sorgen machen, er hätte sich von der törichten romantischen Vorstellung leiten lassen, mit der Last des Reichtums würden ihm auch all seine Probleme von den Schultern genommen, nur um dann festzustellen, dass die Welt ohne ein unerschöpfliches Bankkonto ein härterer Ort zum Leben war. Aber er schien glücklicher zu sein, als sie es zu hoffen gewagt hatte, und sie wusste, dass er ihr nichts vormachte,
denn er war immer noch so leicht zu durchschauen wie jedes der Bücher von Dr. Seuss.
»Die Tage, die Wochen, die Jahre sind hier so ausgefüllt, Sam. Es gibt immer Hunde zu waschen, Ställe zu streichen, Rasen zu mähen, und es gibt immer Kinder, die glauben, nur ich könnte ihre Probleme lösen, weil ich ein Hundeohr habe. Ich liebe die Kinder, Sam. Mein Gott, sie sind prachtvoll, sie haben mit solchen Einschränkungen zu kämpfen, aber sie klagen nie.«
Er hätte das Ohr durch plastische Chirurgie wiederherstellen lassen können, aber aus Gründen, über die sie nur Vermutungen anstellen konnte, hatte er beschlossen, damit zu leben. Dasselbe galt für die Narben auf seinem Kopf: Einzelne Haarbüschel ragten widerspenstig auf, an anderen Stellen wuchs gar kein Haar. Eine leichte Nervenirritation in seinem linken Fuß führte dazu, dass er ihn leicht nachzog, aber er hinkte nicht; er bewegte sich mit der gewohnten Anmut und stellte sich auf den Fuß ein, als sei er mit dem Problem zur Welt gekommen. Er war immer noch der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war, und jetzt besaß er auch noch eine bezaubernde Schönheit, die vorher nicht da gewesen war und nichts mit seinem Aussehen zu tun hatte.
Sie redeten den ganzen Nachmittag miteinander, und obwohl Samantha nicht die Absicht hatte, ihn zu fragen, was damals an dem Tag passiert war, als sich sein Leben so radikal verändert hatte, kam er schließlich von sich aus darauf zu sprechen. Erstmals erfuhr sie all das, was er ihr damals vorenthalten hatte - von Ismay Clemm, den Träumen, dem paranoiden Aufspüren von Verschwörungen und dass er eine Zeit lang geglaubt hatte, ihre Mutter und sogar sie hätte etwas damit zu tun. Er sprach von seiner Blindheit und von
seinen Fehlern mit Leichtigkeit und Demut - und sogar mit einem melancholisch angehauchten Humor. Es war die fesselndste Erzählung, die sie je gehört hatte. Einerseits wegen der tiefgreifenden Veränderungen, die diese Ereignisse in ihm hervorgerufen hatten, andererseits wegen der Ereignisse selbst.
Sie hinterfragte keines der übernatürlichen Elemente seiner Geschichte, denn obwohl sie nie selbst einen Geist gesehen hatte, war die Erde für sie schon immer ein Ort mit zahllosen
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