Racheherz - Roman
erstreckte. Er lag gleich neben einer alten Backsteinkirche.
Was ihn dazu brachte, den Escalade am Randstein zu parken und sich zu Fuß aufzumachen, waren die Espen - oder zumindest glaubte er das. In ihrem goldenen Herbstkleid boten die Bäume einen spektakulären Anblick und wirkten durch den Kontrast zu dem bewölkten Himmel noch flammender.
Der Park hatte keinen Spielplatz und kein Kriegerdenkmal zu bieten, nur verschlungene gepflasterte Wege, die von welkem Laub bedeckt waren. Dazu hin und wieder eine Bank, von der aus man die Pracht der Natur bestaunen konnte.
An diesem milden Nachmittag schien es, als würde der erste Schnee noch Wochen auf sich warten lassen.
Weiße Wolkengaleonen segelten in großer Höhe ostwärts und auf Bodenhöhe war die Welt in eine Flaute geraten, doch selbst bei dieser Windstille zitterte das Espenlaub, wie es das immer tat.
Während er über die Wege lief, blieb er häufig stehen, um dem Rascheln der Bäume zu lauschen, einem Geräusch, das er schon immer liebte. Die Espen reagierten so empfindlich auf den kleinsten Luftzug, weil ihre Blattstiele sehr schmal waren und mit den hängenden Blattspreiten einen rechten Winkel bildeten.
Als er sich auf einer Bank ausruhte, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wann er jemals zuvor Espen rascheln gehört hatte oder woher er wusste, dass die Anordnung ihrer Blattspreite das war, was sie unaufhörlich rascheln ließ.
Sein erster Blick auf den Park hatte eine Saite in ihm in harmonische Schwingungen versetzt. Seine ersten Schritte zwischen den Bäumen hatten die Zuneigung zu etwas völlig Vertrautem in ihm wachgerufen.
Als er jetzt unter einem Baldachin von leuchtend gelben Blättern auf dieser Bank saß, wuchs sich die Zuneigung zu einem intensiveren Gefühl aus, zu einer zartfühlenden Wehmut, die nostalgischen Charakter hatte. Das Unerklärliche daran war, dass er noch nie hier gewesen war und doch das Gefühl hatte, schon viele Male unter eben diesen Bäumen gesessen zu haben, zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung.
Waldlaubsänger, die bald in den Süden ziehen würden, stießen in den raschelnden Bäumen liebliche hohe, klare Töne aus: zwi-zwi-ti-ti-ti-zwi .
Ryan wusste nicht, wo er gelernt hatte, dass diese Vögel Waldlaubsänger waren, doch plötzlich schlug die eigentümlich nostalgische Wehmut, die ihr Gesang wachrief, in ein regelrechtes Déjà-vu um.
Die Gewissheit, dass er schon früher hier gewesen war, nicht nur einmal, sondern oft, wurde so elektrisierend, dass er von der Bank aufsprang. Das untrügliche Gefühl, hier seien übernatürliche Kräfte am Werk, sorgte dafür, dass seine Kopfhaut prickelte, die Haare in seinem Nacken sich sträubten und ein Frösteln die Konturen seiner Wirbelsäule mit der Präzision eines gewissenhaften Physiologieprofessors nachzeichnete, der einen Laserpointer verwendet.
Obwohl die Kirche bislang nur ein netter Hintergrund für ihn gewesen war, ging Ryan jetzt mit der Überzeugung auf sie zu, dass er sie bei einem Anlass, der jetzt in Vergessenheit geraten war, schon einmal betreten hatte. Er war der Kirche vorhin nicht nahe genug gekommen, um ihren Namen zu sehen, doch irgendwie wusste er, dass es sich um eine römisch-katholische handelte.
Das Wetter war unverändert mild, doch er fror immer mehr. Er steckte die Hände in seine Jackentaschen, als er den Park durchquerte und auf die Kirche zusteuerte.
Da sie für den Morgengottesdienst frisch gekehrt worden waren, leuchteten auf den Zementstufen von St. Gemma nur vereinzelte Espenblätter. Die letzte Messe des Tages war bereits gelesen worden und jetzt herrschte Stille in der Kirche.
Während er am unteren Ende der Stufen noch zögerte, wusste Ryan bereits, dass das Kruzifix über dem Altar aus Holz geschnitzt und dass die Dornenkrone, die Christus auf dem Kopf trug, vergoldet war, ebenso wie die Nägel in seinen Händen und Füßen. Hinter dem Kreuz befand sich ein vergoldetes
Oval. Und von dem Oval gingen, geschnitzt und vergoldet, die Strahlen des Heiligenscheins aus.
Er stieg die Stufen hinauf.
An der Tür hätte er sich beinah abgewandt.
Schatten ballten sich in der inneren Kirchenvorhalle und weniger dicht im Hauptschiff, wo das Tageslicht farbenfroh durch die Buntglasfenster drang und noch einige Altarlichter schimmerten.
Das beeindruckende Kruzifix entsprach in allen Einzelheiten exakt dem, was er vorausgesehen hatte.
Er war allein in der Kirche, stand wie versteinert im Mittelschiff
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