Racheherz - Roman
um entweichen zu können.
Die Dunkelheit hinter ihren Lippen, innerhalb des Mundes, war weder im Farbton noch in der Struktur so einheitlich, wie es bei flüchtigem Hinsehen wirkte. Jetzt sah er, dass Teresa etwas im Mund zu haben schien, einen Gegenstand, der direkt hinter ihren Zähnen klemmte, ein verschwommener Umriss, der zu geometrisch war, um ihre Zunge zu sein.
Er vergrößerte ihre Lippen, bis sie den Bildschirm ausfüllten. Er klonte Pixel, um die Auflösung in dem vergrößerten Maßstab wiederherzustellen.
Der formschöne Mund der Frau schien ihm etwas zuzurufen, doch die Stille wurde nicht durchbrochen und gab ihm keinerlei Hinweis auf die letzten Worte, die sie gesagt haben mochte, bevor Barghest ihr, mit welchen Mitteln auch immer, ein Ende bereitet hatte.
Ryan beugte sich vor, um dieses neue Werk so obsessiv zu studieren wie die Spiegelungen in ihren Augen.
Am Montagabend um 20.40 Uhr, als Ryan gerade ein Stiltonsandwich mit Cornichons aß und am Computer arbeitete, rief George Zane mit den Ergebnissen der Blutuntersuchungen an.
Im Rahmen einer umfassenden Analyse hatten die beiden Blutspezialisten und ihre Laborassistenten keine Spuren von Giften, Drogen oder anderen problematischen Chemikalien in den vierzig Millilitern gefunden, die Zane Ryan abgenommen hatte.
»Sie könnten etwas übersehen haben«, sagte Ryan. »Niemand ist so gut, dass er nicht ab und zu mal etwas vermurkst.«
»Wollen Sie, dass ich Ihnen weitere Blutproben abnehme«, fragte Zane, »und jemand anderen finde, der sie analysiert?«
»Nein. Was auch immer es ist, es ist zu subtil, um durch die üblichen Tests aufgespürt zu werden. Sie könnten mir bis auf den letzten Tropfen Blut abnehmen und tausend Hämatologen
beschäftigen, und ich würde doch nicht mehr erfahren, als ich jetzt weiß.«
Ryan spülte die Schlaftabletten in der Toilette runter und bestellte beim Room-Service eine Kanne Kaffee.
Er hatte das Gefühl, die Zeit liefe ihm davon, und zwar nicht in erster Linie weil ihm bis zu seinem Termin bei Dr. Samar Gupta, der ihm die Ergebnisse der myokardialen Biopsie mitteilen würde, nur noch gut achtzehn Stunden blieben.
Als der Abend zu Ende ging und bis weit nach Mitternacht bestand sein Universum nur noch aus den Konturen von Teresa Reachs Lippen, aus ihren Zähnen und ihrer Mundhöhle, und die Beschäftigung damit war so verführerisch und fesselte ihn derart, dass er nicht ins Bett ging, sondern irgendwann nach drei Uhr morgens auf dem Bürostuhl vor dem Computer einschlief. Seine Suche nach der Wahrheit war immer noch nicht belohnt worden.
Während er sich in dem Learjet seiner Firma auf dem Flug von Denver zum John Wayne Airport in Orange County, Kalifornien, verwöhnen ließ, musterte Ryan von Zeit zu Zeit die Fotografie ohne die Vorteile der Bildbearbeitungs-Software und fragte sich, ob der Hinweis, den er suchte, in Teresas Haar verborgen sein konnte, in der einen zarten Ohrmuschel, die auf dem Foto zu sehen war, oder sogar in den Falten des Kissens, die neben ihrem Gesicht schwach zu erkennen waren …
Weniger als eine Stunde vor seinem Termin beim Kardiologen setzte das Flugzeug auf und rollte zum Terminal.
Statt seine Geheimnisse aufs Spiel zu setzen, indem er sich von Lee Ting mit einem Wagen am Flughafen abholen ließ, hatte Ryan eine Luxuslimousine mit Chauffeur an den Flughafen bestellt. Das Transportunternehmen schickte einen superlangen weißen Cadillac und einen höflichen Fahrer, der nicht das Gefühl hatte, Konversation gehöre zu seinen Pflichten.
In der Limousine starrte Ryan auf der Fahrt zu Dr. Guptas Praxis die ganze Zeit über Teresas totes Gesicht an.
Er war in eine Geistesverfassung abgeglitten, die gar nicht typisch für ihn war. Die Verwirrung, die in Denver von ihm Besitz ergriffen hatte, hatte in einem solchen Maß zugenommen, dass er nicht mehr nur verwirrt, sondern total durcheinander war, denn das, was er erfahren und erlebt hatte - und sein misslungener Versuch, sich einen Reim darauf zu machen - überforderte seine geistigen Fähigkeiten.
Zum ersten Mal in seinem Leben restlos durcheinander zu sein hätte ausgereicht, um seine Lebensgeister zu schwächen, aber zu allem Überfluss fühlte er auch noch eine stille Resignation in sich aufsteigen, was noch schlimmer war, da er geglaubt hatte, zu Kapitulation gar nicht fähig zu sein, ganz gleich, in welcher Form und in welchem Ausmaß.
Die Selbstsucht seiner Eltern und ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber hatten ihn
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