Rachekind: Thriller (German Edition)
aus. Sie versuchte den aufkeimenden Ärger zu überspielen. »Ihr seid auf dem Spielplatz, nicht wahr?«
»Lilou buddelt hier grade den Sandkasten um …«
Hanna seufzte. »Ich komme zu euch.«
Lilou aus dem Sandkasten zu holen würde nicht so einfach sein. Nicht seitdem sie davon besessen war, alles zu vergraben. Mit dem Instinkt einer Mutter wusste Hanna, dass es mehr war als eine vorübergehende kindliche Vorliebe, wie die Ärztin ihr heute früh versichert hatte. Und mit der gleichen Sicherheit wusste sie, dass es mit dem Atemstillstand zu tun hatte.
»Na, wie war der erste Tag ohne deinen Zuckerschatz?« Britt klopfte auf die Bank, die vor dem Sandkasten stand, und bedeutete Hanna damit, sich neben sie zu setzen. »Du hast sie ganz schön vermisst, nicht?«
Hanna drückte Lilou ein letztes Mal an sich und schickte sie dann mit einem liebevollen Klaps auf die Windel wieder zum Sandkasten. »Ja. Ich habe sie wahrscheinlich mehr vermisst als sie mich.«
Ihr Blick fiel auf die bunten Haarspangen in Lilous Haar. »Hast du ihr die Haarspangen reingetan?«
»Süß, gell?« Britt zog eine kleine Tüte aus ihrer Jackentasche. »Ich habe noch ein Paar mit Schmetterlingen gekauft.«
Hanna grinste. »Du wärst das Traumkind meiner Mutter gewesen! Ich habe Haarspangen gehasst. Und diese schrecklichen Schnallenschuhe aus Lackleder mit dem Schleifchen vorne. Ich habe eigentlich alles gehasst, was irgendwie rosa und mädchenhaft war.«
»Und deine Mutter?« Britt spielte mit den türkisen Spangen.
»Sie hat dann irgendwann angefangen, mich zu hassen. Naja, vielleicht hat sie mich nicht gerade gehasst, aber sie ist echt an mir verzweifelt.« Hanna kicherte. »Vor allem, als ich in meiner Robin-Hood-Phase war und unser Tafelsilber an alle möglichen Leute verschenkt habe. Das fand sie gar nicht lustig.«
Britt ließ die Spangen auf- und zuschnappen. »Lilou hat sich über die Haarspangen jedenfalls gefreut«, sagte sie dann spitz. »Ich musste sie ihr gleich in die Haare stecken.«
»Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt. Die Spangen sehen süß aus. Das war sehr lieb von dir.«
»Ich bin nicht eingeschnappt«, konterte Britt. »Du bist dir nur offenbar nicht bewusst, wie privilegiert du aufgewachsen bist. Ich habe mir meine ganze Kindheit Schnallenschuhe aus glänzendem Lackleder gewünscht. Stattdessen gab es bei uns den Wodka schon zum Frühstück.«
»Deine Eltern waren Alkoholiker?«
»Meine Mutter. Sie hat sich zu Tode gesoffen. Als ich fünfzehn war.«Ihre Lippen wurden schmal.
»Das muss hart für dich gewesen sein.« Hanna sah die Trauer in Britts Gesicht und wusste nicht, ob sie der Mutter oder ihrer verlorenen Kindheit galt, aber sie begann zu verstehen, warum Britt so heftig reagierte, als sie abfällig über ihre eigene, wohlbehütete Kindheit geredet hatte. »Und dein Vater?«
»Habe ich nie kennengelernt.« Ohne Hanna die Chance auf eine Antwort zu geben, fuhr sie fort: »Das war anders als bei dir. Ihr hattet sicher Kindermädchen und Putzfrau und Chauffeur und sonst was, und wenn du nur im Nebensatz irgendwas erwähnt hast, ist wahrscheinlich sofort einer von denen losgerannt und hat es besorgt.«
Hanna sah die roten Flecken auf Britts Wangen und schluckte ihren Ärger über den unerwarteten Angriff herunter. »Es tut mir leid, dass du eine schwierige Kindheit hattest, aber dafür kann ich nichts. Ich hätte dir meine Schnallenschuhe gerne gegeben.«
»Entschuldige. Ich habe es nicht so gemeint. Lass uns von was anderem reden.« Britt steckte die Haarspangen in die Tüte zurück und verstaute sie in ihrer Handtasche.
Hanna beobachtete, wie Lilou ein Loch schaufelte, kleine Äste sammelte, sie hineinlegte und das Loch wieder zuschüttete. »Hat in der Krippe alles geklappt?«
»Die Leiterin hat ziemlich rumgezickt wegen dem Abholen. Du hättest meinen Namen auf eine Liste setzen sollen oder so was.«
»Mist, das habe ich total vergessen.« Hanna schippte mit dem Fuß Sand vom Weg in den Sandkasten.
»Halb so schlimm. Du hattest ja der netten Blonden Bescheid gesagt. Und Lilou kam gleich auf mich zu …«
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte Hanna. »Ich bin irgendwie total zerstreut. Die ganze Zeit verlege ich Dinge, das ist mir noch nie passiert. Ich habe für alles einen bestimmten Ort, schon seit ich ein Kind bin, das ist bei mir ein Automatismus.«
»Meinst du das mit dem Set?«
»Zum Beispiel. Gestern habe ich Lilous Löwenteller im Oberschrank gefunden statt in der
Weitere Kostenlose Bücher