Rachekind: Thriller (German Edition)
die Bauwerke und die Geschichten, die dahintersteckten, nahegebracht. Heute jedoch behielt er sein Wissen für sich. Hanna war sich sicher, dass ihre offensichtliche Schnüffelei der Grund für das Schweigen war. Und doch hatte er sich nicht davon abhalten lassen, sie zu begleiten.
»Ich weiß, dass du dich fragst, warum wir nicht über Stevie reden«, sagte George plötzlich.
Hanna sah ihn unsicher an. Hatte er ihre Unterhaltung mit Simon belauscht? Verstand er genug Deutsch, um ihren Worten zu folgen?
»Nach Marys Reaktion bei deiner Ankunft musst du dich das wohl fragen.« Er winkte dem Fahrer eines entgegenkommenden Fahrzeugs freundlich zu. »Du fragst dich, was die zwei verrückten Alten wohl zu verbergen haben. Und warum keine Fotos von Stevie im Haus sind. Du fragst dich das, weil du spürst, dass Mary sich nichts sehnlicher wünscht, als dass ihr Sohn zurückkäme oder wenigstens du und Lilou tatsächlich seine Familie wärt.«
Hanna legte die Hände in ihren Schoß. »Ja«, sagte sie kaum hörbar, räusperte sich dann und wiederholte lauter: »Ja. Ich habe mich darüber gewundert. Aber ich denke, ihr werdet eure Gründe dafür haben.«
George nahm den Blick von der Straße und sah sie forschend an. Hanna wünschte, er würde sich auf die Straße konzentrieren, die immer enger zu werden schien.
»Ihr seid mir keine Erklärung schuldig. Ich bin sehr dankbar für das, was ihr mir die letzten Tage gegeben habt. Ihr habt uns aufgenommen und behandelt, als würden wir zu euch gehören.«
»Für Mary bist du die Schwiegertochter, die sie nie hatte«, sagte George leise. »Sie denkt, der liebe Gott hat euch geschickt, um ihren Schmerz zu lindern.«
Hanna überlegte, ob sie nachhaken sollte, entschied dann aber abzuwarten. Mucksmäuschenstill verharrte sie in ihrer Sitzposition, als könnte die geringste Bewegung ihrerseits Georges möglichen Redefluss behindern.
»Er ist einfach verschwunden. Fast zwanzig Jahre ist das nun her. Wie in Nichts aufgelöst. Im Oktober wäre sein vierunddreißigster Geburtstag. Anfangs hat die Polizei nach ihm gesucht, sie waren sich so sicher, dass er nur weggelaufen ist und nach ein paar Wochen von alleine wieder auftauchen würde, aber dann ist immer mehr Zeit verstrichen und schließlich hat die Polizei ihn aufgegeben. Wenn jemand so lange vermisst wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er zurückkommt, fast null. Sie gehen davon aus, dass er tot ist und sie höchstens irgendwann seine Leiche finden werden.«
George machte eine Pause, und Hanna spürte, dass er auf eine Reaktion von ihr wartete.
»Wie furchtbar. Wie ist er verschwunden? Einfach nach der Schule nicht mehr aufgetaucht? Oder ist er richtig weggelaufen? So mit gepackter Tasche und aus dem Haus schleichen?«
»Wir waren nicht da, als es passiert ist.« George sog scharf die Luft ein. »Er war in Betreuung. Als wir wiederkamen, war er weg. Und niemand wusste, warum oder wohin.«
»Ihr wart nicht da?«
»Lange Geschichte.« Er verfiel in Schweigen, und Hanna verstand, dass er nicht vorhatte, diese Geschichte jetzt mit ihr zu teilen. In Betreuung. Vielleicht hat Stevie dort ihren Steve kennengelernt. Vielleicht waren sie Freunde gewesen.
»Könnte es sein, dass euer Stevie zusammen mit meinem Steve abgehauen ist?«, fragte sie zaghaft. »Vielleicht weiß er deshalb so gut über euch Bescheid.«
George schüttelte den Kopf. »Es wurde zu dem Zeitpunkt kein zweites Kind vermisst. Wir haben diese Möglichkeiten alle durchexerziert. Wenn er also mit jemandem weg ist, dann hätte der viel älter sein müssen als er.«
Wieder löste er den Blick von der Straße und suchte Hannas Augen. »Stell dir vor, Lilou würde verschwinden. Kannst du dir vorstellen, je die Suche nach ihr aufzugeben oder die Hoffnung, sie eines Tages wiederzusehen? Kannst du dir vorstellen, durch welche Hölle Mary gegangen ist, als die Polizei Stevie als verschollen eingestuft und wie eine Karteileiche abgelegt hat?«
Hanna nickte stumm. Ja, sie konnte es sich vorstellen. Die Verzweiflung, die Hoffnung, die Angst, die Schuldgefühle. Du würdest wahnsinnig werden. Du würdest es nicht ertragen, nicht zu wissen, wo Lilou ist.
»Mary hat es nicht verkraftet. Sie ist daran zerbrochen. Zehn Jahre haben wir nach ihm gesucht. Wir haben Spendengelder für die Suche mobilisiert und Privatdetektive engagiert. Du musst bedenken, das war vor Facebook und so. Wir hatten anfangs nicht einmal ein Handy, mit dem wir uns hätten koordinieren können, wenn
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