Rachekind: Thriller (German Edition)
wir einer neuen Spur nachgegangen sind.«
Er verstummte, aber Hanna spürte, dass er noch nicht fertig war. Sie ließ ihre Augen über die vorbeiziehende Landschaft wandern. Die Klippen. Das Meer. Anziehend und bedrohlich zugleich.
»Als wir vor zehn Jahren in Gibraltar einer heißen Spur gefolgt sind und wieder mit nichts zurückkamen außer einer weiteren zerplatzten Hoffnung und einem Loch in der Kasse, wollte ich die Suche aufgeben. Stevie war inzwischen über zwanzig, wenn er wirklich noch lebte und zu uns zurückwollte, wüsste er, wo er uns finden würde. Ich habe versucht, Mary davon zu überzeugen, aber sie wollte nichts davon wissen. Und dann …«
Wieder verstummte er. Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Und dann«, fuhr er stockend fort, »hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen.«
Georges Frustration, erst den Sohn zu verlieren und dann um ein Haar auch noch seine Frau, war in dem Auto so intensiv spürbar, dass Hanna bereits wusste, was er tun würde, bevor er mit der Hand auf das Lenkrad einschlug. Das Auto machte einen leichten Schlenker. Hanna presste die Lippen aufeinander.
»Entschuldige.« George brachte den Ford in die Spur zurück und konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Der liebe Gott wollte sie noch nicht. Aber sie muss bis an ihr Lebensende mit den Konsequenzen leben.«
Der Rollstuhl.
Ob Mary sich eine Felswand heruntergestürzt hatte?
»Sie war monatelang im Krankenhaus und jahrelang in psychiatrischer Behandlung. Damals habe ich alle Bilder von Stevie weggeräumt. Ich musste das tun, verstehst du?«
Hanna nickte. Sie verstand. Arme Mary. Zwanzig Jahre Ungewissheit. Zwanzig Jahre Hoffnung. Zwanzig Jahre nicht abschließen können. Deshalb halfen die Warringtons ihr so selbstlos. Wenn irgendjemand sich in ihre Lage versetzen konnte, dann sie. Abrupt stoppte George das Auto und schaltet den Motor aus.
»Wir sind da.«
30
Das North Cliff View war vor fünfzig Jahren wohl ein stattliches Haus gewesen, heute jedoch war es eine heruntergekommene Pension, deren weiß getünchte Backsteinwände dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätten. Von den Fenstern im Erdgeschoss blätterte die schwarze Farbe ab, der Vorgarten bestand größtenteils aus wucherndem Gestrüpp, und an den Steinstufen zur Eingangstür waren Stücke weggebrochen. Innen sah es nicht viel besser aus. Die Teppiche waren abgetreten, die altmodischen Blumentapeten nikotinfleckig und vergilbt.
George läutete an der winzigen Rezeptionstheke. Sogleich kam ein untersetzter Mann Mitte fünfzig aus einem Hinterzimmer geschossen.
»Bitte?«, fragte er beflissen und musterte Hanna und George von oben bis unten, als wollte er einschätzen, ob die beiden gute Kundschaft seien oder er lieber zu seinem Fernseher zurückkehren sollte.
Hanna zog Steves Foto hervor und zeigte es dem Pensionswirt. »Guten Tag. Erinnern Sie sich an diesen Mann? Er hat vor gut zwei Monaten zwei Nächte hier verbracht.«
Der Wirt kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und betrachtete eingehend das Bild. »Warum wollen Sie das wissen?«
George trat vor sie und richtete sich vor dem Wirt zu seiner imposanten Größe auf. »Erinnern Sie sich?«
Der Wirt wich zurück und ließ George keinen Moment aus den Augen. »Ein komischer Kauz. Der hat hier im Frühstücksraum gesessen und andauernd telefoniert. Immer nur Hallo, kann ich mal soundso sprechen, und kurz darauf wieder aufgelegt. Hat er was ausgefressen?«
Hanna ignorierte seine Frage. »Hat er sich hier mit jemandem getroffen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Fällt Ihnen sonst noch irgendetwas ein?«, bohrte Hanna nach. Der Wirt warf einen Blick auf George und verzog dann den Mund zu einem gequälten Lächeln, als müsste er sich in ein schweres Schicksal fügen. »Er war groß, größer als ich auf jeden Fall, und er trug sehr dunkle Jeans mit schiefen Taschen. Er hatte ein kleine Reisetasche dabei.«
»Ja, das ist alles korrekt«, bestätigte Hanna.
»Am ersten Tag hat er die ganze Zeit telefoniert. Kommt nach Woody Bay, das ist immerhin einer der schönsten Flecken dieser Erde, und verkriecht sich dann in meinen Frühstücksraum. Das ist der einzige Ort hier, an dem man einigermaßen guten Empfang hat.«
»Haben Sie verstanden, worum es in den Telefonaten ging?«
»Nein, tut mir leid, mehr kann ich Ihnen nicht bieten.«
»Vielen Dank«, sagte Hanna. »Sie haben uns wirklich geholfen.«
Auf dem Weg zur Eingangstür rief der
Weitere Kostenlose Bücher