Rachekind: Thriller (German Edition)
Abschluss verlassen und dann eine Zeit lang auf dem Bau geschuftet. Nach ein paar Jahren ist er nach Deutschland gezogen, weil man dort besser verdient, und da ist er dann geblieben.« Hanna hielt inne, als sie Linus’ spöttisches Lächeln bemerkte.
»Zumindest hat er mir das so erzählt.«
»Er ist also wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten nach Deutschland?« Das spöttische Lächeln wurde zum Grinsen. »Der gute, alte Steve, war schon immer unschlagbar, wenn es darum ging, Geschichten zurechtzubiegen.«
Hanna schluckte. »Weshalb hat er England denn sonst verlassen? Hatte es etwas mit seinen Eltern zu tun?«
Das Grinsen verschwand aus Linus’ Gesicht. »Er hat dir also wirklich nicht erzählt, was damals vorgefallen ist?«
Hanna verkrampfte ihre Hände in den Jackentaschen.
Linus’ Augen bohrten sich in die ihren, als versuchte er zu erfahren, ob sie ihm etwas verschwieg. Schließlich brach sie den Blickkontakt ab. Ihr war mit einem Mal furchtbar heiß. Umständlich knöpfte sie ihre Jacke auf. Dann hob sie den Kopf und stellte sich erneut seinem Blick. »Was ist denn vorgefallen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Wenn Steve nicht darüber geredet hat, habe ich auch kein Recht dazu.« Sein Gesicht schien sich plötzlich zu verschließen.
Hanna hatte das Gefühl, als hätte er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wenn er ihr nichts sagen wollte, warum hatte er sie dann an diesen Ort beordert? Ihr fiel auf, dass bislang nur sie über Steve gesprochen hatte, er selbst hatte noch keine einzige Information preisgegeben. Was für ein Spiel veranstaltete er mit ihr? Sie richtete sich kerzengerade auf, um größer zu wirken, und stemmte ihre Hände in die Hüfte. »Was weißt du dann über Steve?«
»Ich weiß, dass du aufhören solltest, ihn zu suchen.«
»Das hast du mir im Chat auch schon mitgeteilt.« Seine unverbindliche Antwort verärgerte sie. »Er ist mein Mann, ohne triftigen Grund werde ich ihn kaum aufgeben, oder?«
Er zuckte mit den Schultern, als wäre ihm völlig gleichgültig, was sie vorhatte, aber seine Gesichtszüge verhärteten sich.
»Er ist schlechter Umgang. Glaub mir einfach, und vergiss ihn. Für immer. Es ist besser für dich.« Er senkte seine Stimme und trat so nah an sie heran, dass sie an seinem Atem kalten Rauch riechen konnte. »Als Steve zu mir kam und mich um Rat gefragt hat, wollte er nicht auf mich hören. Mach du nicht den gleichen Fehler.«
»Ist das alles, was du mir zu bieten hast?«, fuhr sie ihn an, unfähig, ihren Ärger weiter im Zaum zu halten. »Dass er schlechter Umgang ist? Ich denke, das kann ich immer noch am besten beurteilen. Ich bin mit ihm verheiratet, und das nicht erst seit gestern. Meinst du nicht, mir hätte das auffallen müssen?«
Er blickte sie mitleidig an. »Da hat Steve ja eine gute Show abgezogen. Das muss man ihm lassen.«
»Du weißt doch gar nichts«, zischte sie. »Du hast gar keine Informationen für mich, stimmt’s?«
»Falsch. Du weißt nichts über ihn.« Linus steckte seine Hand in die Innentasche seiner Jacke und zog ein abgegriffenes Büchlein hervor. »Nichts über den wahren Steve. Nichts über den Steve, der er war, bevor er dich zufällig kennengelernt hat.«
Die Art, wie er das Wort zufällig betonte, ließ sie aufhorchen. Steve und sie waren sich zufällig über den Weg gelaufen. Sie hatten sich in einer Bar kennengelernt, als er angerempelt wurde und sein Bier sich auf ihren Pullover ergoss. Er hätte nicht wissen können, dass sie an dem Abend dort sein würde.
»Ich weiß, dass er ein liebevoller Ehemann und ein fantastischer Vater ist.«
Linus spielte mit dem Büchlein in seiner Hand, als überlegte er, was er damit machen sollte. »Das heißt nichts anderes, als dass du nichts über seine Vergangenheit weißt.«
Er hatte recht, sie wusste nichts. Sie wusste nicht, wo er hingegangen war, und sie wusste nicht, wo er hergekommen war. Zumindest wusste sie nicht, ob irgendetwas von dem stimmte, was er ihr erzählt hatte. Deshalb war sie hier. In England. Am Viewpoint North. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft nahm sie das Rauschen des Meeres wahr, dessen Wellen sich an den Klippen brachen.
Linus war schwer und muskulös. Es wäre ein Leichtes für ihn, sie über die Brüstung zu stoßen. Niemand wusste, mit wem sie sich traf. Nicht einmal sie selbst wusste, wer der Mann ihr gegenüber wirklich war und warum er sie hierhergelockt hatte. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper unter Spannung stand, als warte sie auf
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