Rachekind: Thriller (German Edition)
sitzen würde, sondern in dem Tumult mitmischte und das fröhliche Quieken aus ihrem Mund stammte. Doch sie wusste, dass diese Hoffnung nicht realistisch war, sonst hätte die Betreuerin sie nicht angerufen und um ein Gespräch gebeten. Sie spähte durch das Türfenster und entdeckte Lilou, allein in der Ecke an einem der kleinen Tische. Vor ihr zwei Tassen und eine Teekanne aus der Puppenküche, der Plüschwal auf ihrem Schoß. Sie hob die Kanne und schenkte erst in die eine und dann in die andere Tasse imaginären Tee ein, dann nahm sie ihre Tasse und tat so, als würde sie trinken, bevor sie beide Tassen wieder füllte und dabei mehrmals mit dem Kopf nickte, um ihrem unsichtbaren Gesprächspartner zuzustimmen.
Hanna öffnete die Tür und trat ein.
»Guten Tag, Frau Warrington.« Als habe sie schon auf sie gewartet, stand die Betreuerin sofort neben ihr. Ihr Gesicht war ernst. »Lassen Sie uns nach nebenan gehen.«
Hanna versuchte das lähmende Gefühl abzuschütteln, das sie seit dem Telefonanruf begleitete, und folgte der Frau in den Besprechungsraum. Die Betreuerin deutete auf einen der Stühle, die um einen runden Tisch arrangiert waren. »Bitte.«
Hanna setzte sich und faltete ihre Hände im Schoß. Die Frau nahm gegenüber Platz.
»Nicht dass Sie mich falsch verstehen, Lilou ist ein bezauberndes Kind. Aber so kann das nicht weitergehen.«
»Ist denn etwas passiert?« Hanna wusste, dass nichts passiert war. Lilou war so ruhig. So brav. So friedlich. Sie gehörte nicht zu den Kindern, die die Gruppe mit ihrem unkontrollierbaren Verhalten aufmischten. Aber sie wusste auch, dass Lilou sich nicht benahm wie die anderen Kinder. Sie beobachtete es immer wieder am Spielplatz, und sie redete es sich jedes Mal schön. Kinder entwickeln sich eben unterschiedlich. Und verglichen mit den Absonderlichkeiten, die andere Mütter von ihren Kindern erzählten, schienen Lilous Eigenheiten ganz erträglich zu sein. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
»Im Gegenteil. Wir kriegen sie einfach nicht dazu, bei irgendetwas mitzumachen. Sie verweigert alle gemeinsamen Spiele und Aktivitäten mit Ausnahme des Singens. Das ist wirklich auffällig.«
»Wird sie nicht akzeptiert?«
»Dazu gibt sie den anderen gar keine Chance. Es ist, als ob die anderen Kinder sie einfach nicht interessieren. Verstehen Sie mich nicht falsch. Lilou ist nicht unglücklich, wenn sie sich in ihre Ecke zurückzieht. Wir würden das merken. Nein, sie wirkt zufrieden. Aber sie müsste eben schon einen Schritt weiter in die Gruppe gemacht haben.«
»Wir haben eine schwere Zeit hinter uns«, sagte Hanna. »Lilous Vater ist … fort … und ich … ich konnte das nicht ausgleichen.« Hanna verstummte. Wenn sie an die letzten Monate zurückdachte, sah sie nur grau in grau. Sie hatte funktioniert. Mehr nicht. Sie hatte dafür gesorgt, dass der Laden weiterlief. Sie hatte sich um Lilou gekümmert, und sie hatte versucht, mit ihrer Wut zurande zu kommen. Auf dem neuen Laufband in ihrem Schlafzimmer. Jeden Abend, nachdem sie Lilou zu Bett gebracht hatte. Stunde um Stunde, bis zur totalen Erschöpfung.
»Tja, also eine Scheidung ist natürlich traumatisch, aber … Nein, also so kenne ich das nicht. Diese Obsession mit dem Sandkasten«, fuhr die Betreuerin fort. »Sobald wir im Garten sind, rennt sie dahin und beginnt alles zu vergraben, was sie finden kann. Ganz ehrlich, das wirkt beinahe wie ein Zwang. Ich rate Ihnen dringend, Lilou von einem Psychologen ansehen zu lassen.«
»Einem Psychologen?«, fragte Hanna nach. »Ist sie dafür nicht noch viel zu klein?«
»Nein, es gibt spezielle Kinderpsychologen. Und dann«, die Erzieherin schüttelte sich, bevor sie weitersprechen konnte, »und dann ist da noch die Sache mit den Spinnen. Das macht den anderen Kindern Angst. Sie haben jetzt schon Spitznamen für Lilou, weil sie das so grauslig finden.«
Hannas Körper versteifte sich. Spinnen. Verdammte Spinnen. Überall diese verdammten Spinnen. In ihrem Traum, doch nicht nur dort, auch in der Wohnung waren noch nie so viele Spinnen gewesen wie in den letzten Monaten. »Was ist mit den Spinnen?«
»Lilou sammelt sie.«
»Sie sammelt sie?« Hanna starrte die Betreuerin bestürzt an.
Die Frau verzog ihre Lippen, sodass die Mundwinkel nach unten zeigten und das Kinn sich in Falten legte. Deutlicher hätte sie ihren Ekel mit Worten nicht ausdrücken können.
»Sie sammelt sie und legt sie dann in eine der Spielzeugkisten.« Die
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