Rachekind: Thriller (German Edition)
bin ich noch mal an die Sache ran. Ich wollte wissen, ob ich einen Fehler gemacht habe oder ob da was faul ist.« Er öffnete die Umhängetasche, mit der er die Küche betreten hatte, und zog die Kopie einer Geburtsurkunde heraus. »Das ist die Geburtsurkunde, mit der Steve zweitausendeins in der englischen Botschaft in Berlin seinen Reisepass beantragt hat. Angeblich hatte er seinen Ausweis verloren, zumindest ist das dort als Grund angegeben. Als Dokument zur Ausstellung des neuen Passes musste er seine Geburtsurkunde vorlegen.« Er legte die Kopie vor Mary hin. »Diese hier.«
Als Eltern waren George Arthur Warrington und Mary Susannah Warrington, geborene Jamieson, eingetragen.
»Das ist Stevies Geburtsurkunde!«, rief sie aus. »Er kam am zweiten Oktober neunzehnhundertsiebenundsiebzig im Royal Devon and Exeter Hospital zur Welt. Wo haben Sie die her?«
»Von Hanna. Ich hatte mir gedacht, dass Sie die Urkunde wiedererkennen würden. Der Zufall, dass es ein Kind mit gleichem Namen und exakt den gleichnamigen Eltern gibt, das auch noch zur gleichen Zeit am selben Ort geboren wurde, schien mir einfach zu groß.«
George stieß seinen Stuhl zurück und verließ wortlos die Küche.
»Dann stimmt es also, Steve heißt gar nicht Steve?«, fragte Hanna nach.
Stein legte seine Hand auf ihre Schulter. »Ja. Das ist die einzige Erklärung. Wenn Mr. und Mrs. Warrington sich ganz sicher sind, dass der Mann auf deinem Foto nicht ihr Sohn ist, dann ist Steve nicht Steve.«
Also doch. Alles inszeniert. Sie fühlte sich wie betäubt. Gefühlstaub. Was immer jetzt noch passierte, es war ihr egal. Wo Steve war. Ob sie ihn je wiedersehen würde.
George erschien im Türrahmen. »Sie ist weg.«
»Was ist weg?«, fragte Mary.
»Stevies Geburtsurkunde«, sagte er und runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Sie hätte in dem Dokumentenordner sein müssen. Oder in dem Stevie-Ordner. Ich verstehe das nicht.«
Stein schaute Hanna bedeutungsvoll an. Sie verstand. Für jemand wie Steve wäre es ein Leichtes gewesen, hier einzubrechen und die Geburtsurkunde zu klauen.
Koffer und Reisetasche hatte George bereits im Kofferraum von Steins Leihwagen verstaut. Hanna war froh, nach Aachen zurückzufliegen. Sie wollte nach Hause. Ein neues Leben anfangen. Ihre Wut verarbeiten.
Eng gedrängt standen sie im Flur. George hinter Mary vor der schmalen Kommode mit dem halbblinden Spiegel, Hanna und Marten Stein in der geöffneten Haustür. Mary hielt Lilou fest an sich gedrückt, die Augen voller Tränen. Lilous Kopf lag still auf ihrer Schulter, als wüsste sie, dass sie Abschied nehmen musste und diese letzten Sekunden nicht herumzappeln durfte. Hanna bemerkte den forschenden Blick, mit dem Stein die Abschiedsszene beobachtete, und nahm Mary das Kind aus dem Arm. Anders als sonst wehrte Lilou sich heute nicht, sondern vergrub ihren Kopf in Hannas Halsbeuge.
»Wir kommen wieder«, sagte Hanna. »Ich verspreche es. Darf ich ein Bild von euch haben? Für Lilous Zimmer. Dann kann sie sich besser an euch erinnern, wenn die Zeit bis zum nächsten Besuch zu lang ist.«
George verschwand im Wohnzimmer und kam kurz darauf mit zwei Fotos zurück. Auf einem waren George und Mary in ihrem Garten vor der Statue abgebildet, das andere war das Foto von Steve, das Hanna zur Erstellung des Flugblatts verwendet hatte.
»Das habe ich gerade bei den letzten Flugblättern gefunden. Die kann ich jetzt wegwerfen, oder?«
Am liebsten hätte Hanna ihm Steves Foto zurückgegeben und ihn aufgefordert, es ebenfalls zu vernichten.
»Ja, bitte«, sagte sie stattdessen und steckte die Bilder in ihre Handtasche.
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich euch danken soll«, begann sie und nahm Marys Hand. Mary liefen inzwischen lautlos Tränen über ihre Wangen.
Hanna reichte George die Hand. »Dan …«
Das Wort blieb ihr im Hals stecken. Sie drückte Georges Hand so fest, dass er sie mit einem Scherz befreite. Doch Hanna starrte nur auf den halbblinden Spiegel hinter ihm, aus dem Steves blutiges Gesicht sie verzerrt angrinste, als freue er sich auf ein makabres Spiel.
34
26. März 1991
Luke wird mir immer unheimlicher. Ich glaub, der Alte macht etwas mit ihm, irgendeine Gehirnwäsche, wie bei dem Film mit Jack Nicholson. Er hat die ganze Woche nicht einmal rumgepöbelt, und mit Steve ist er plötzlich richtig dicke. Eigentlich sollte mich das freuen, aber irgendwie nervt es mich. Erst macht er mich blöd an, weil ich überhaupt mit Steve rede, und plötzlich macht er
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