Rachekind: Thriller (German Edition)
Betreuerin schüttelte sich. »Was meinen Sie, wie die anderen Kinder sich grausen …«
36
Hanna zündete die Kerze in dem Stövchen an und stellte die neue Glaskanne darauf ab. Die Worte der Erzieherin gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die Kinder grausen sich … Lilou sammelt Spinnen … verweigert die gemeinsamen Aktivitäten … Es war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Solange nur sie selbst sich Gedanken über Lilou gemacht hatte, war es relativ einfach gewesen, sich einzureden, dass Lilou sich Om geholt hatte, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Dass Lilous Obsession mit Om nur eine vorübergehende Phase sein würde, wie die Ärztin ihr versichert hatte. Doch jetzt hatte sie die Bestätigung von außen. Von einer Person, die Lilou jeden Tag erlebte und die einen direkten Vergleich zu anderen Kindern hatte. Es machte ihr Angst. Große Angst.
Gut, dass Britt sie überredet hatte, mit ihr noch eine Tasse Tee zu trinken. Sie fühlte sich jetzt schon besser, nur weil Britt im Wohnzimmer saß und der Tee, den sie mitgebracht hatte, angenehm nach Jasmin duftete.
»Weißt du, dass wir uns in den letzten drei Monaten nur fünfmal gesehen haben?« Britt klang vorwurfsvoll.
»Tut mir leid. Ich hatte wenig Zeit.«
»Du bist mir aus dem Weg gegangen.«
Hanna wollte protestieren, doch Britt sprach weiter: »Du willst nicht über Steve reden. Und über das, was in England vorgefallen ist.«
Hanna rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Hast du nicht selbst gesagt, Vergangenes soll man ruhen lassen?«
»Es ist aber nicht vergangen, wenn es dich am Leben hindert.« Britt zog ihre Beine hoch und legte sie über die breite Armlehne des neuen Sessels. »Nimm nur deinen Wahn, alles rauszuschmeißen, was dich an Steve erinnert. Ich meine, ich freu mich zwar, dass du mir seinen Sessel und die Küchenmöbel geschenkt hast, aber das ist doch echt übertrieben.«
Hanna schnappte sich ein Kissen und presste es vor ihren Bauch. Kein anderes Möbelstück war so mit Erinnerungen an Steve besetzt gewesen wie dieser Sessel, auf dem mit größter Wahrscheinlichkeit Lilou gezeugt worden war. Sie hatte seinen Anblick nicht mehr ertragen.
»Willst du mir nicht doch erzählen, was in England vorgefallen ist?« Britt führte die Tasse zum Mund und stellte sie hastig wieder ab, ohne davon zu trinken. »Autsch. Heiß. Erst verschwindest du wortlos, dann kommst du zurück, schmeißt Steves Sachen aus der Wohnung und sagst, du willst seinen Namen nie wieder hören. Da muss doch was voll Krasses abgegangen sein …«
»Ich habe nicht alles weggeschmissen«, widersprach Hanna. »Ich habe umgeräumt. Es liegt noch ein ganzer Koffer voll mit Zeug von Steve unter dem Bett. Falls Lilou mal was davon haben will, immerhin ist er ihr Vater.«
Sie wollte nicht über Steve reden. Sie war noch nicht so weit. Der Einzige, mit dem sie sich in den letzten Monaten über Steve ausgetauscht hatte, war Linus gewesen. Steves Tagebuch verband sie auf seltsame Weise. Er wusste Dinge über Steve, die sonst niemand wusste, den sie kannte. Und sie wusste diese Dinge jetzt auch. Und genau das machte es ihr so schwer, über ihn zu reden. Wie sollten Britt oder Simon oder Marten sie verstehen, wenn sie nur einen Teil der Geschichte kannten? Sie müsste ihnen das Tagebuch zu lesen geben, und dazu war sie nicht bereit. Einerseits war es der Beweis, wie Steve sie ausgekundschaftet und getäuscht hatte, wie er von dem Erbe ihrer Großmutter erfahren und die Besitzverhältnisse ihrer Eltern erkundet hatte. Andererseits eine Liebeserklärung an Rose, die Frau, für die er sich geändert und ein neues Leben angefangen hatte.
Heute habe ich meine Rose Janusch vorgestellt. Ich war aufgeregt wie ein Erstklässler, ich weiß gar nicht, warum. Ich hätte mir gleich denken können, dass die beiden sich auf Anhieb verstehen. Jedenfalls hat der Janusch Rose gesagt, dass sie sich einen duften Typen ausgesucht hat. Einen duften Typen! Wenn das jemand anders gesagt hätte, hätt ich mich weggeschmissen vor Lachen. Aber als Janusch das gesagt hat, wusste ich gar nicht, was ich antworten sollte. Dufter Typ. Das heißt verdammt viel, wenn der Janusch das sagt. Und da hab ich gemerkt, dass ein Lehrer noch nie so was über mich gesagt hat, und dass es mir verdammt viel bedeutet, dass ausgerechnet der Janusch so über mich denkt. Jedenfalls hat Rose ihm gleich zugestimmt, dass ich meinen Meister machen soll, und dann haben die auf mich eingeredet wie auf einen
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