Rachekind: Thriller (German Edition)
zu. Als sie sie wieder öffnete, quoll noch immer brauner, fransiger Füllstoff aus der Naht. Sie beugte sich näher zu Britt und sprang dann mit einem Schrei vom Sofa.
»Britt! Der Wal!«
Britt schrak hoch, starrte auf das Plüschtier. Spinnen krochen aus dem Walbauch auf ihre Hand. Mit einem gellenden Schrei schleuderte sie ihn von sich. Er landete auf der anderen Seite des Couchtischs, die offene Naht nach oben, und Hanna beobachtete entsetzt, wie immer mehr Spinnen aus dem Bauch des Stofftiers krabbelten, in blitzartiger Geschwindigkeit über den Boden flohen und hinter dem Bücherregal verschwanden.
Hanna ging neben dem Wal in die Hocke. Sie sammelt Spinnen. Das hatte die Betreuerin also gemeint. Sie würgte, als sie an die Spinnenprozession dachte, die vorhin das Plüschtier verlassen hatte. Mit spitzen Fingern hob Hanna es vom Boden hoch und schüttelte es. Weißes Füllmaterial fiel heraus. Hanna überwand ihren Ekel und stopfte es wieder in den Walbauch zurück. Es war fest und kratzig und ließ keine Hohlräume erkennen, in denen Lilou die Spinnen hätte verstecken können. Hanna untersuchte den Wal genauer. Das Füllmaterial veränderte seine Form kaum, wenn sie darauf drückte. Es stopfte den Wal völlig aus. Wo waren all die Spinnen hergekommen? Wie hatte Lilou sie dort hineingequetscht, ohne sie zu töten? Sie überlegte, ob sie das Tier ganz zerlegen oder gleich wegwerfen sollte, wie Britt voller Panik geschrien hatte, bevor sie aus der Wohnung gestürmt war. Aber das konnte sie nicht tun, der Wal war Lilous Ein und Alles. Sie musste ihn zunähen. Heute noch, damit Lilou ihn in der Früh wie jeden Tag in Empfang nehmen konnte. Sie stand auf und trug das Stofftier so vorsichtig zum Sofa zurück, als hielte sie eine Bombe in der Hand.
Donnerstag, 22. September
37
Es war das erste Mal, dass Hanna den Friseursalon betrat, in dem Britt arbeitete. Er war hell und luftig, die marmorierten Wände glänzten seidig. In den Boden eingelassene, beleuchtete Wasserläufe führten sternförmig von der Mitte des Ladens zu übergroßen Frisierstühlen, deren dicke Polster zum sofortigen Hinsetzen einluden. Hanna ging zu der ovalen Theke in der Mitte des Raums, an der eine rothaarige Schönheit Nagellackfläschchen in einen Karton räumte.
»Entschuldigen Sie, ich suche Britt.«
Die Rothaarige lächelte sie freundlich an und legte ihren manikürten Zeigefinger auf den Terminkalender.
»Sie haben einen Termin?«
»Nein.«
Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Da kann ich leider nichts machen. Britt macht gerade Pause, und danach ist sie den ganzen Nachmittag ausgebucht.« Sie blätterte durch das Buch. »Darf ich Sie für nächste Woche eintragen?«
Ungeduldig drückte Lilou sich von ihr weg. Hanna stellte sie auf den Boden. Sofort setzte Lilou sich in Bewegung, steuerte zielstrebig auf einen der Frisierstühle zu und stellte sich vor das mobile Regal, auf dem die verschiedenen Utensilien zum Haareschneiden und -stylen untergebracht waren.
»Danke nein«, sagte Hanna und lief Lilou hinterher, die bereits fasziniert mit einem Beutelchen spielte, das an einem Lederband von dem Friseurwagen baumelte.
Hanna versuchte es ihr wegzunehmen, doch Lilou wehrte sich.
»Mein!«
»Hanna! Das ist aber eine Überraschung!« Britt stand wie aus dem Nichts vor ihr und küsste sie auf die Wangen. Dann ging sie neben Lilou in die Hocke. »Na, mein Schätzchen, kommst du Tante Britt besuchen?«
Lilou griff sofort wieder nach dem Säckchen. Britt löste das Lederband von dem Wagen, damit Lilou es ganz an sich nehmen konnte. »Das ist mein Talisman. Möchtest du damit spielen?«
Lilou drückte das Säckchen an sich und schnalzte mit der Zunge. Hanna zuckte zusammen. Sie würde sich nie daran gewöhnen. Wie Steve. Genau der gleiche Ton. Als stünde er neben ihr.
»Sie schnalzt mit der Zunge? Ist sie dafür nicht noch zu klein?«
»Theoretisch ja. Aber der Arzt sagt, manche Kinder können das bereits in dem Alter..« Hanna strich Lilou über den Kopf. »Ich hatte gehofft, du hättest einen Termin frei. Ich bin so genervt, ich brauche dringend jemanden zum Luftablassen. Und ein Haarschnitt könnte mir auch nicht schaden.«
»Ich bin komplett ausgebucht.« Britt schüttelte mit dem gleichen Bedauern den Kopf wie die Rothaarige ein paar Minuten zuvor, und Hanna überlegte, ob man so einen Gesichtsausdruck wohl trainieren konnte.
»Schade, aber es ist sowieso etwas vermessen, einfach in Aachens angesagtesten Salon zu
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