Rachekind: Thriller (German Edition)
mit einem unsichtbaren Freund würden sich besser entwickeln und wären kreativer«, fuhr sie fort. »Ich weiß gar nicht, warum die Betreuerin so besorgt war. Die müsste das eigentlich doch wissen. Im Internet steht, die Eltern sollen einfach darauf eingehen und den Freund so behandeln, als würde er wirklich existieren.«
»Heißt das, wir decken nachher vier Teller auf?«
»Auf jeden Fall. Om sitzt immer mit am Tisch.«
»Fertig.« Marten stand auf einmal hinter ihr. Sie spürte seine Nähe, spürte die Hitze, die von seinem Körper ausging, und wagte nicht, sich zu bewegen.
»Wohin damit?« Er schwenkte die geschälten Kartoffeln in der Plastikschüssel, als wären es Goldnuggets.
»Töpfe sind in der Schublade da drüben.«
Eifrig zog Marten die Schublade auf, holte einen Topf heraus, füllte ihn mit Wasser und gab die Kartoffeln hinein. Als ob er hier zu Hause ist, dachte Hanna und schaltete den Herd ein.
Marten setzte sich zu Lilou. Sie brabbelte munter, klatschte auf seine Hand und zeigte dann auf eines der Bilder in der Illustrierten. Hanna widmete sich wieder den Töpfen. Sollte sie ihm von ihren Pseudohalluzinationen erzählen? Vielleicht wusste er, warum sie immer das gleiche Bild sah. Fast das gleiche. Gestern war Steves Gesicht noch verfallener und schmutziger gewesen. Warum spielte ihr Unterbewusstsein ihr diesen Streich? Die letzten drei Monate war er ihr nicht ein einziges Mal erschienen. Sie hatte mit ihm abgeschlossen.
»Weißt du, was Lilou sich da seit fünfzehn Minuten anschaut?«, flüsterte Marten plötzlich neben ihr.
Ohne überhaupt hinzusehen wusste sie, dass Lilou sich wieder in den Sonderteil über exotische Spinnen vertieft hatte. »Sie liebt Spinnen.«
»Aber das sind Vogelspinnen. Vor denen graut sogar mir. Meinst du nicht, dass ihr die Bilder Albträume bereiten?«
Hanna schüttelte den Kopf. »Ihr nicht. Mir schon.«
Marten setzte sich zurück zu Lilou. Er zeigte auf ein besonders großes, haariges Exemplar. »Weißt du, was das ist?«
Lilou legte ihren Kopf schief, sah Marten an, dann bohrte sie ihren Finger in das Bild und murmelte etwas Unverständliches.
»Eine Spinne«, rief Hanna ihr zu. »Sag Spinne.«
»Pinne.« Lilou lachte und drückte ihren Mund auf das Bild. Hanna verzog das Gesicht. Es ekelte sie, die Bilder nur zu betrachten. Dann zeigte Lilou auf ein anderes Exemplar und redete wieder Kauderwelsch.
Marten deutete nach und nach auf die verschiedenen Abbildungen und hörte ihr aufmerksam zu, zückte schließlich sein Smartphone, ging mit ihr noch mal die Abbildungen durch und nahm Lilous Antworten auf.
»Was machst du da?«, fragte Hanna.
Marten steckte das Smartphone weg. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie versucht, die Spinnen bei ihren lateinischen Namen zu nennen.«
Hanna lachte. »Ihren lateinischen Namen? Sie kann nicht mal reden, meinst du nicht, das ist etwas absurd?«
»Absurd?« Marten blätterte die Seite in dem Magazin um und deutete auf die nächste Spinne. »Es ist unglaublich. Aber warst du nicht genau deswegen mit ihr beim Arzt?«
Hanna lauschte.
»Gulaia anniaga.«
Marten hielt seinen Zeigefinger auf das nächste Bild, eine türkis schimmernde Spinne.
»Gulaia eolli«
Die nächste. Eine schwarz und rotbraun gestreifte kräftige Spinne.
»Bachma annta«
»Bachma annta?«, wiederholte Hanna. »Heißen Spinnen nicht irgendwas mit Arachnia?«
»Die Spinne als solche, die Unterarten haben andere Familienbezeichnungen. Ein ehemaliger Mandant von mir hatte zum Beispiel eine Avicularia versicolor, sie war sein ganzer Stolz.« Er blätterte eine Seite vor und studierte die in einem Kästchen zusammengefassten Bezeichnungen. »Da. Diese türkis schimmernde Spinne heißt Avicularia geroldi.«
»Avicularia«, sagte Hanna langsam. Sie blätterte zurück und zeigte wieder auf die türkis schimmernde Spinne. »Weißt du, was das ist?«
Gebannt wartete sie auf Lilous Antwort.
»Gulaia eolli«
»Avicularia geroldi, gulaia eolli …« Hanna setzte sich Lilou gegenüber. »Aber das ist unmöglich! Woher soll sie die lateinischen Begriffe kennen?«
»Ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Sie beweist uns ja, dass es nicht unmöglich ist.«
»Aber …« Hannas Kopf schwirrte. Sie spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufstellten.
»Hatte Steve einen besonderen Bezug zu Spinnen? Auf Facebook hast du angegeben, dass er ein Spinnennetz-Tattoo auf der Schulter hat.«
»So wie andere Drachen oder Meerjungfrauen. Er
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