Racheklingen
Posten oder noch beim Trinken, und sie sahen Espe, der an ihnen vorüberritt, mit misstrauischen Blicken hinterher.
Es erinnerte ihn an all die kalten, feuchten Nächte, die er selbst in solchen Lagern verbracht hatte, einmal quer durch den Norden und zurück. Wie er, an Feuern zusammengekauert, ein Stoßgebet an die Toten geschickt hatte, dass der Regen nicht noch schlimmer wurde. Wie er Fleisch auf den Speeren toter Männer geröstet hatte. Wie er sich im Schnee unter allen Decken, die er hatte finden können, zusammengerollt hatte. Wie er die Klingen für die dunklen Werke des nächsten Tages geschärft hatte. Er sah vor sich die Gesichter von Männern, die tot und wieder zu Schlamm geworden waren, Männer, mit denen er gelacht und getrunken hatte. Sein Bruder. Sein Vater. Tul Duru, den sie den Donnerkopf genannt hatten. Rudd Dreibaum, der Fels von Uffrith. Harding Grimm, stiller als die Nacht. Diese Erinnerungen ließen unerwartet Stolz in ihm aufwallen. Und es folgte eine Welle unerwarteter Scham angesichts der Arbeit, die er nun zu tun im Begriff stand. Mehr Gefühle, als er seit dem Verlust seines Auges zugelassen hatte, und mehr, als er überhaupt je wieder erwartet hatte.
Er schniefte, und sein Gesicht brannte unter dem Verband. Der Augenblick der Empfindsamkeit ging dahin und ließ ihn wieder in der Kälte zurück. Sie hielten vor einem Zelt, so groß wie ein Haus; das Licht einer Lampe leckte durch die Schlitze der Leinwandtür.
»Du solltest versuchen, dich dort drin zu benehmen, du Nordländer-Arschloch.« Der Posten gab Espe einen Stoß mit der eigenen Axt. »Sonst werde ich …«
»Fick dich, du Idiot.« Espe schubste ihn mit einem Arm weg und schob den Stoff beiseite. Drinnen roch es nach abgestandenem Wein, verschimmelter Leinwand, ungewaschenen Männern. Das Zeltinnere war notdürftig von flackernden Lampen beleuchtet, und an den Wänden hingen zerfetzte und ausgefranste Flaggen, die Trophäen früherer Schlachten.
Ein Stuhl aus dunklem Holz, der mit Elfenbein verziert war, vernarbt und vom jahrelangen Gebrauch poliert, stand auf zwei Kisten vor der gegenüberliegenden Wand. Der Stuhl des Generalhauptmanns, wie er vermutete. Der Stuhl, den einst Cosca innegehabt hatte, dann Monza und nun der Getreue Carpi. Er sah nicht viel anders aus als ein abgewetzter Esszimmerstuhl aus dem Haus eines reichen Bürgers. Jedenfalls nicht so wertvoll, als dass es sich gelohnt hätte, Menschen deswegen umzubringen, aber andererseits kann dazu oft schon der geringste Grund genügen.
Ein langer Tisch war in der Mitte aufgestellt, und an beiden Längsseiten saßen Männer. Die Hauptmänner der Tausend Klingen. Männer, die ungehobelt und hart wirkten, vernarbt, fleckig und mitgenommen wie der Stuhl, und die mit einer hübschen Waffensammlung ausgestattet waren. Aber Espe hatte schon in gefährlicherer Gesellschaft gelächelt, und jetzt lächelte er auch. Seltsamerweise fühlte er sich in dieser Gesellschaft wohler als die ganzen Monate zuvor. Hier kannte er die Regeln, dachte er, jedenfalls besser als im Umgang mit Monza. Offenbar hatten sie angefangen, ihren nächsten Beutezug zu planen, nach den Karten zu urteilen, die auf der Tischplatte ausgebreitet waren, aber mittendrin war aus der Strategiebesprechung ein Würfelspiel geworden. Die Landkarten wurden nun von verstreut liegenden Münzen beschwert, von halbvollen Flaschen, alten Bechern und angestoßenen Gläsern. Eine große Zeichnung war rot mit vergossenem Wein verschmiert.
Ein massiger Mann stand am Kopf des Tisches – das Gesicht voller Narben und mit kurzem, grauem Haar, das ihm allmählich ausging. Er hatte einen buschigen Schnurrbart, und der Rest seines kantigen Kinns war mit weißen Stoppeln bedeckt. Der Getreue Carpi persönlich, nach dem, was Monza von ihm erzählt hatte. Er schüttelte in einer gewaltigen Faust die Würfel. »Kommt schon, ihr Scheißerchen, gebt mir eine hübsche Neun!« Die Würfel zeigten eine Eins und eine Drei, und es folgten ein paar Seufzer und auch Gelächter. »Ärsche!« Carpi schleuderte ein paar Münzen über den Tisch zu einem großen, pockennarbigen Drecksack mit Hakennase, in dessen langem schwarzem Haar eine große, kahle Stelle gähnte. »Eines Tages kriege ich deine Tricks raus, Andiche.«
»Das war kein Trick. Ich bin einfach ein Glückskind.« Andiche warf Espe einen Blick zu, wie ihn ein Fuchs für ein Hühnchen erübrigen mochte. »Was ist das denn für ein bandagiertes Arschloch?«
Der Wachposten drängte
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