Racheklingen
großer Teil der Mauern zur Linken war verschwunden, ein Turm an ihrem Ende neigte sich gefährlich und sah aus, als wolle er dem übrigen Gemäuer jeden Augenblick hinterherstürzen. Ein paar unbelaubte Büsche klammerten sich an die gezackte Abbruchkante, wo zuvor die Befestigungsmauern gestanden hatten, und krallten sich in die leere Luft. Espe vermutete, dass sich hier einmal Gärten befunden hatten, aber die Flammengeschosse der Katapulte, die in den vergangenen Wochen hier aufgeschlagen waren, hatten die meisten Pflanzen in verbranntes Gesträuch, geborstene Baumstämme und kahle Erde verwandelt, vom Regen der letzten Nacht durchweicht und mit Pfützen durchsetzt.
Ein gepflasterter Weg führte mitten durch diese Wüstenei, vorbei an einem halben Dutzend ruhender Springbrunnen und zu einem schwarzen Tor, das noch immer fest verschlossen war. Zwischen den Trümmern lagen verdrehte Körper, mit Pfeilen gespickt. Tote Männer gruppierten sich um einen versengten Rammbock. Espes geübtes Auge bemerkte auf den Zinnen über ihnen Speere, Bogen, schimmernde Rüstungen. Offenbar wurde der Innere Hof immer noch gehalten. Herzog Orso verschanzte sich zweifelsohne mittendrin.
Sie ritten um einen großen Haufen herum, bedeckt von feuchter Leinwand, die mit Steinen beschwert worden war und in deren Falten sich Wasser sammelte. Als Espe daran vorüberkam, sah er, dass an einer Seite Stiefel darunter hervorragten und auch einige nackte Füße, allesamt mit Tropfen besetzt.
Offenbar war einer von Volfiers Jungs ein noch grüner Rekrut, denn er wurde ganz blass, als er die Toten sah. Komisch, aber sein Entsetzen führte lediglich dazu, dass Espe sich fragte, seit wann ihm der Anblick von ein paar Leichen eigentlich nichts mehr ausmachte. Für ihn gehörten sie gewissermaßen zum Gesamtbild und hatten keine größere Bedeutung als die geborstenen Baumstümpfe. Es wären mehr als ein paar Tote nötig gewesen, um ihm die gute Laune zu verderben, die er an diesem Morgen hatte.
Monza zügelte ihr Pferd und glitt aus dem Sattel. »Absteigen«, knurrte Volfier, und die anderen folgten ihrem Beispiel.
»Wieso haben einige von ihnen nackte Füße?« Der Junge starrte noch immer auf die Toten.
»Weil sie gute Stiefel hatten«, sagte Espe. Der Junge sah auf seine eigene Fußbekleidung, dann wieder auf die nassen nackten Füße, dann schlug er sich die Hand vor den Mund.
Volfier gab dem Jungen einen Klaps auf den Rücken, der ihn zusammenzucken ließ, und zwinkerte Espe dabei zu. Offenbar machte man sich überall auf der Welt auf die gleiche Weise über die Grünschnäbel lustig. »Ob du noch Stiefel hast oder nicht, macht überhaupt keinen Unterschied, wenn du erst mal tot bist. Keine Sorge, Kleiner, daran wirst du dich schon noch gewöhnen.«
»Daran gewöhnt man sich?«
»Wenn du Glück hast«, sagte Espe, »dann lebst du lange genug dazu.«
»Wenn du Glück hast«, ergänzte Monza, »dann findest du vorher noch eine andere Beschäftigung. Wartet hier.«
Volfier nickte ihr zu. »Euer Exzellenz.« Espe sah ihr zu, wie sie sich den Weg durch die Zerstörung bahnte.
»Alles im Griff in Talins?«, fragte er leise.
»Hoffe ich«, brummte der vernarbte Feldwebel. »Die Feuer haben wir inzwischen gelöscht. Mit den Verbrechern aus der Altstadt haben wir einen Handel abgeschlossen, laut dem sie eine Woche lang ein Auge auf alles haben, dafür behelligen wir sie einen Monat lang nicht.«
»Das sagt schon eine Menge, wenn man sich auf Diebe verlassen muss, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.«
»Es ist eine verkehrte Welt.« Volfier betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Mauer des Inneren Hofes. »Mein alter Dienstherr ist auf der anderen Seite. Ein Mann, für den ich mein ganzes Leben lang gekämpft habe. Solange er am Ruder war, gab es keine Aufstände.«
»Wärst du gern bei ihm da drin?«
Volfier sah missmutig zur Seite. »Ich wünschte, wir hätten bei Ospria gewonnen, dann würde sich diese Frage jetzt gar nicht stellen. Aber ich wünschte mir auch, meine Frau hätte nicht mit dem Bäcker herumgehurt, während ich vor drei Jahren in der Union war, um zu kämpfen. Wünschen ändert nichts.«
Espe grinste und klopfte sich mit einem Fingernagel gegen das Metallauge. »Das ist wohl wahr.«
Cosca saß auf seinem Feldstuhl im einzigen Teil des Gartens, der von der Zerstörung verschont geblieben war, und sah seiner Ziege zu, die auf dem nassen Rasen graste. Es war etwas seltsam Beruhigendes an ihrem gemächlichen,
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