Racheklingen
Zahlen und so.« Espe wünschte, er hätte nie gefragt.
Freundlich schien ihn kaum zu hören. »Hier draußen ist der Himmel zu hoch, und jeder Mann tut, was ihm gefällt und wann es ihm gefällt, und es gibt keine rechten Zahlen für irgendwas.« Er warf einen finsteren Blick in Richtung Westport, das immer noch ein bloßer Ring verschwommener Gebäude an einer kalten Bucht war. »Verdammtes scheiß Chaos.«
Sie erreichten das Stadttor gegen Mittag; es hatte sich bereits eine lange Schlange von Menschen gebildet, die Einlass begehrten. Soldaten standen am Tor, stellten Fragen, durchsuchten Packen oder Kisten und stocherten mit den stumpfen Enden ihrer Speere halbherzig in der Ladung eines Karrens.
»Die Ratsherren sind nervös geworden, seit Borletta gefallen ist«, sagte Morveer von seinem Platz. »Sie lassen jeden überprüfen, der in die Stadt hineinwill. Ich werde das Reden übernehmen.« Espe ließ ihn nur zu gern gewähren, da der Dummschwätzer den Klang seiner Stimme ohnehin so sehr zu lieben schien.
»Ihr Name?«, fragte der Wachmann mit unendlich gelangweilten Augen.
»Reevrom«, sagte der Giftmischer mit breitestem Grinsen. »Ein bescheidener Kaufmann aus Puranti. Und dies sind meine Gehilfen …«
»Welche Geschäfte führen Sie nach Westport?«
»Mord.« Unbehagliches Schweigen. »Ich hoffe, einen mörderischen Preis beim Verkauf osprianischer Weine zu erzielen! Ja, ich hoffe wirklich, in Ihrer Stadt
mörderisch
erfolgreich zu sein.« Morveer lachte über seinen eigenen Witz, und Day neben ihm fiel kichernd mit ein.
»Der Kerl hier sieht nicht so aus wie einer, den wir da drinnen gebrauchen können.« Ein anderer Wächter warf Espe einen finsteren Blick zu.
Morveer gluckste weiter. »Aber nein, wegen dem brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Der Mann ist praktisch völlig zurückgeblieben. Hat den Intellekt eines Kindes. Aber er taugt trotzdem dazu, das eine oder andere Fass zu bewegen. Ich behalte ihn im Grunde vor allem aus Mitleid bei mir. Was bin ich, Day?«
»Sentimental«, sagte das Mädchen.
»Ich habe ein zu großes Herz. Hatte ich immer schon. Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war, wissen Sie, eine wundervolle Frau …«
»Seht mal zu da vorn!«, rief jemand hinter ihnen.
Morveer nahm die Leinenplane, mit der sie den hinteren Teil des Wagens abgedeckt hatten, an einem Zipfel hoch. »Wollen Sie kurz überprüfen, ob …«
»Seh ich vielleicht so aus, wo sich halb Styrien vor meinem Tor staut? Los, weiter.« Der Wachmann machte eine müde Handbewegung. »Weiterziehen.«
Die Zügel schnalzten, der Karren rollte in die Stadt Westport, und Murcatto und Freundlich ritten hinterdrein. Espe kam als Letzter, so wie es seit geraumer Zeit seine Gewohnheit geworden war.
Hinter der Stadtmauer herrschte ein Gedränge wie in einer Schlacht, und es ging dabei kaum weniger furchteinflößend zu. Eine gepflasterte Straße erstreckte sich zwischen hohen Gebäuden, auf beiden Seiten mit nackten Bäumen bepflanzt, und eine Flut von Menschen aller Hautfarben und Größen wälzte sich darüber hinweg. Bleiche Männer in nüchterner Kleidung, schmaläugige Frauen in bunter Seide, schwarzhäutige Männer in weißen Roben, Soldaten und Mietklingen in Kettenhemden und stumpfen Rüstungen. Diener, Arbeiter, Händler, Adelige, reich und arm, herausgeputzt und stinkend, Edle und Bettler. Verdammt viele Bettler. Fußgänger und Reiter schwärmten verschwommen heran und wieder davon, Pferde und Karren und Planwagen, und Frauen mit hoch aufgetürmten Frisuren, verschwenderisch mit Juwelen behängt, wurden auf schwankenden Sänften von jeweils zwei schwitzenden Dienern getragen.
Espe hatte schon in Talins gedacht, dass sich dort die seltsamste Vielfalt von Menschen tummelte. Westport war aber noch viel schlimmer. Er sah eine Reihe von Tieren mit langen Hälsen, die man durch das Gedränge führte, mit dünnen Ketten aneinandergebunden, und ihre kleinen Köpfe schwankten in der Höhe traurig von einer Seite zur anderen. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, aber als er sie wieder aufmachte, waren diese Ungeheuer immer noch da, zuckten mit ihren Köpfen über der dahinwogenden Menge und schienen den anderen nicht einmal aufzufallen. Dieser Ort war wie ein Traum, aber keiner von der angenehmen Sorte.
Sie schlugen einen schmaleren Weg ein, der von Läden und Ständen gesäumt war. Verschiedene Gerüche attackierten seine Nase – Fisch, Brot, Polierwichse, Früchte, Öl, Gewürze
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