Rachekuss
lagen Fetzen und verknäulte Kunstspinnennetze herum.
Als um halb zwölf die Gästetoilette so vollgekotzt war, dass niemand mehr hineinmochte, und die Ersten in den Vorgarten oder hinters Haus zu pinkeln begannen, war Flora klar, dass sie die Situation alleine nicht mehr retten konnte.
Sie versuchte, ihre Eltern anzurufen, aber das Telefonkabel war aus der Buchse gerissen und das Telefon nirgends zu finden. Auch ihr Handy, das sie am frühen Abend in die Küche gelegt hatte, sah sie nirgends.
Flora setzte sich auf die oberste Treppenstufe, besah fassungslos diese unkontrollierbare, wie ein Fieberbrand wuchernde Höllenparty und ihr liefen die Tränen.
Einige Jungs waren dermaßen besoffen, dass sie sich kaum noch auf zwei Beinen halten konnten. Ein paar hatten ihre Pullis und Shirts ausgezogen und schwankten mit nacktem Oberkörper durchs Wohnzimmer. Einer versuchte, sich auf das Flurschränkchen, ein antikes Stück von Leticias Mutter aus Bahia, zu setzen und es gab donnernd nach. Ob das Gelächter der Umstehenden oder das Splittern des Holzes und das Scheppern des Inhalts lauter waren, konnte Flora nicht ausmachen. Sie flüchtete die Treppe nach oben und wollte sich in ihr Bett verkriechen. Einfach die Decke über den Kopf ziehen, nichts hören, nichts sehen, irgendwann aufwachen und merken, dass alles nur ein böser Traum gewesen war.
Doch als sie die Tür öffnete, schloss sie sie ganz schnell wieder. Oh Gott! Das konnte nicht wahr sein! Ihr Herz raste nun und sie spürte, wie ihr schlecht wurde, obwohl sie keine zwei Gläser Prosecco getrunken hatte. Mit Carina, als noch niemand da gewesen war.
Das Bild, das sie gerade gesehen hatte, ließ sich nicht von ihrer Netzhaut verbannen. Eingebrannt war es, tief und fest. Blonde Haare, durchsetzt mit schwarzen Fransen und einer rosa Strähne. Nackte Brüste, gierige Finger, ein weit geöffneter Mund. Und die Grimasse des Jungen, der bei ihr lag… Und Carinas Gesicht, irgendwo zwischen Lust und Schmerz, weit fort wie die Welt auf der anderen Seite des Atlantiks.
Flora schloss sich in ihr Badezimmer ein, das die tobende Meute im Erdgeschoss noch nicht entdeckt hatte, und weinte, bis sie nicht mehr konnte. Sie wollte zurück, heim, nach Rio, zu ihren Freunden – Freunden, die ihr so etwas nie angetan hätten. Dort hatten sie gemeinsam Spaß, nicht auf Kosten anderer. Flora klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, irgendetwas musste sie tun. Nur was? Zu den Nachbarn gehen, die sie noch gar nicht kannte? Selbst zur nächsten Polizeistation radeln und die Bullen herbeipfeifen? Als sie das Handtuch von ihrem Gesicht zog, sah sie plötzlich blaues Licht zum Fenster hineinblinken. Es entfernte sich und kam näher, entfernte sich und kam näher. Flora atmete erleichtert auf. Sie riss die Tür auf und stürmte nach unten. Schon von oben sah sie einen Mann in einer schwarzen Lederjacke und einer sandfarbenen Hose, der sich eher irritiert als autoritär umsah. War er ganz allein?
»Bitte«, versuchte Flora, zu ihm hinüberzurufen. »Helfen Sie mir! Schmeißen Sie die Leute raus, bitte!« Sie kam sich komplett lächerlich vor und ihr stand die Schamesröte im Gesicht. Der Streifenbeamte brauchte einige Zeit, bis er sie in dem Gewimmel entdeckte. Er hatte ein rundes, flaches Gesicht mit zahlreichen Aknenarben und wässrige blaue Augen, die sie nun fixierten. Ihr flehentlicher Gesichtsausdruck schien ihm jedoch aufzufallen. Er kämpfte sich zu ihr durch, indem er ziemlich hart die Umstehenden zur Seite drückte, was wiederum lautes Gejohle heraufbeschwor.
»Sind Sie hier die Gastgeberin?«, schrie ihr der Polizist zu und Flora nickte traurig. Er deutete ihr mit der Hand, ihm hinauszufolgen. Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und sich von ihm hinausziehen lassen – sie wollte nicht sehen, in welchem Zustand sich das Haus ihrer Eltern befand. Schwarze Fußabdrücke entdeckte sie an den Flurwänden, als habe jemand versucht, die Wand hochzulaufen.
Über den Häusern und Gärten lag eine dünne Schicht Schnee, die im Licht der Straßenlaternen unwirklich funkelte. Die kalte Nachtluft zerschnitt beinahe Floras Haut, sie zitterte augenblicklich in ihrem dünnen T-Shirt, aber der Polizist ließ sie auf die Rückbank des geheizten Streifenwagens steigen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hatte. Auf dem Fahrersitz saß ein zweiter Polizist, der in sein Funkgerät sprach.
»Mein Kollege fordert Verstärkung an«, informierte der Aknenarbige sie.
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