Rachekuss
nicht sagen, was es war, aber vielleicht war es die Ruhe, die von ihr ausging, unter der aber etwas anderes immer wieder aufzublitzen schien. Eine Form von Aggressivität, die Flora ängstigte. Leonie arbeitete stumm vor sich hin. Small Talk schien ihr nicht zu liegen. Und dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um Anekdoten aus dem Alltag auszutauschen, war Flora auch klar.
Sie fing an, die CDs zurück in ihre Hüllen zu stecken. Überall fand sie immer noch eine und noch eine, unter Schränken, Sesseln, sogar im Flur lagen welche herum.
Der Flur war das allergrößte Desaster. Neben dem kaputten Holzschränkchen und den vielen schwarzen Fußspuren an den Wänden hatte auch noch der Spiegel einen Sprung und die Wandgarderobe war von zu vielen Jacken auf einer Seite aus der Wand gebrochen. Erst jetzt fiel Flora der widerwärtige Gestank aus dem Gästeklo gleich daneben auf und sie riss die Haustür auf, um zu lüften.
»Was machen wir denn damit?«, fragte Leonie und Flora zuckte zusammen, weil sie das Mädchen nicht hatte kommen hören.
»Ich kann das nicht«, sagte Flora leise und presste sich eine Hand vor den Mund. Leonie getraute sich immerhin, durch einen Spalt in das Klo hineinzuschauen. Sie schloss die Tür jedoch schnell wieder.
»Puh, wie ekelhaft«, stöhnte sie. »Hast du schon mal drüber nachgedacht, wieso die Party so eskaliert ist?« Flora bückte sich und sammelte Klopapierfetzen auf, die auf dem Boden verstreut lagen.
»Na, ich hab nur ein paar Leute über Facebook eingeladen, wahrscheinlich hat sich das dann irgendwie verselbstständigt.«
»Hm.« Leonie überlegte. »Also, mir hat Yannik von der Party erzählt, aber so richtig altmodisch mündlich. Ich hab gar keinen Facebook-Account und ich glaub, ich weiß jetzt auch, warum.« Sie schmunzelte. Sehr witzig, dachte Flora, sagte jedoch nichts.
»Es gibt schon ein paar Leute, die dich nicht mögen. Frag mich nicht, warum. Manchmal reicht es ja schon, wenn man anders aussieht als die andern. Mich mögen auch viele nicht.« Sie stülpte ihre schiefe, große obere Zahnreihe über die Unterlippe und mümmelte, als sei sie ein Kaninchen.
»›Hexe Hasenfresse‹ nennen sie mich. Und denken, ich weiß nichts davon. Manche sind nicht nur fies, sondern auch doof. So wie Stoffi. Obwohl der dir ja eher sabbernd hinterherrennt. Der hat übrigens auch über Yannik mitbekommen, dass hier ’ne Party abgeht. Na ja, Erlangen ist halt klein… wenn schon mal was los ist… und kostenlos saufen tun sie alle gern.«
Gegen halb vier war tatsächlich die größte Sauerei beseitigt. Zumindest so, dass Floras Eltern nicht sofort in Ohnmacht fallen würden, wenn sie das Haus betraten. Als Leonie weg war, spürte Flora die Müdigkeit auf sich niederprasseln wie einen Tropenregen. Sie legte sich mit einer Decke zum Schlafen aufs Sofa. Zum einen wollte sie mitbekommen, wenn ihre Eltern kamen, zum anderen ekelte sie sich davor, in ihrem missbrauchten Bett zu schlafen. Und jetzt noch Bettwäsche wechseln, dazu fühlte sie sich nicht mehr in der Lage.
Sie schloss die Augen, presste die Bilder der Nacht aus ihrem Kopf und sah nur noch Jungs in bunten Schwimmshorts vor sich, die auf glitzernden Wellen surften. Und nach einer Minute war sie tatsächlich eingeschlafen.
6. Kapitel
Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.:
»…Die Patientin neigt dazu, sich selbst und ihre Fähigkeiten stark abzuwerten, nicht aus positiven Ereignissen der Vergangenheit zu lernen, sondern nur aktuelle Misserfolge oder negative Erfahrungen in den Bewertungshorizont aufzunehmen. Auch Episoden des Ekels vor sich selbst und des Selbsthasses seien ihr vertraut. Dann strafe sie sich oft mit oben genannten Methoden des SVV…«
»Boah, stinkt das hier!«
Lucas riss die Tür zum Wohnzimmer auf und Flora fuhr erschrocken hoch. Das Blut hinter ihren Schläfen pochte wild und sie sah benommen in das grelle Morgenlicht.
»Flora«, rief ihr Vater nun viel zu laut. »Was ist denn hier passiert? Das gibt’s doch gar nicht!« Doch, dachte sie, und du hättest das Haus mal heute Nacht sehen müssen. Flora schloss die Augen einfach und ließ sich wieder aufs Sofa gleiten.
Ihr Vater riss sie nun wortlos am Arm hoch. Zornig funkelnd sah er sie an.
»Eine Erklärung bitte!«
»Papai, nicht so laut«, stöhnte Flora.
»Du bist kein kleines Mädchen mehr, Flora. Du bist 18. Erwachsen nennt man das angeblich.«
»Was ist mit meinem Schrank passiert?«,
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