Rachekuss
etwas Drängendes, als wolle sie ihren Gesprächspartner ganz für sich vereinnahmen – gleichzeitig wirkte sie dabei unsicher, als wolle sie sagen, ich bin es gar nicht wert, dass du dich mit mir abgibst. Flora seufzte. Seltsame Menschen bevölkerten dieses Land.
Langsam ging sie in Richtung Hugenottenplatz weiter. Sie hatte sich vorgenommen, so oft wie möglich dort zu schauen, ob sie diesen Schwarzen noch einmal entdecken würde. Vielleicht konnte der ihr ein paar Puzzleteile anbieten, die ihr weiterhelfen würden. Aber natürlich war es bei Mr Bleck wie immer rappelvoll – mit den üblichen Schülern, auf die Flora gar keine Lust hatte. Mutlos setzte sie sich auf den Hugenottenplatz, wunderte sich, dass die letzten Strahlen der Novembersonne so wärmen konnten, und wartete. Aber nichts geschah.
Es war morgens kurz vor sechs, als Flora drei Tage später von ihrem iPhone geweckt wurde. Ihr Wecker würde erst um kurz nach halb sieben klingeln. Irritiert griff sie nach dem Handy und meldete sich mit einem müden »Hallo?«.
»Spreche ich mit Flora Harnasch?«, fragte eine ihr völlig unbekannte Frauenstimme.
»Ja«, krächzte Flora und gähnte.
»Du bist eine Bestie – man sollte dich ersticken!« Und – zack – hatte die Frau eingehängt. Flora fuhr irritiert in ihrem Bett auf. Was war das gewesen? Sie starrte auf ihr Handy, das sie vor Schreck vor sich auf die Matratze geworfen hatte. Hatte die Frau sich verwählt?, überlegte sie kurz – aber nein – die Fremde hatte sogar nach ihrem Namen gefragt, bevor sie ihre Beschimpfung losgeworden war. Wieso war sie eine Bestie? Sie hatte doch niemandem etwas getan. Sie klickte sich zur Anruferliste ihres Telefons, stellte jedoch fest, dass die Nummer der Frau unterdrückt worden war. Kein Wunder. Das Handy vibrierte. Flora ließ es erschrocken fallen wie einen toten Fisch, der plötzlich zu zappeln anfing. Der Eingang einer SMS wurde angezeigt. Vielleicht Carina, die mal wieder nicht in die Schule kam, wie gestern auch schon?
»Hallo Tiermörderin«, stand da. »Wir kriegen dich.« Flora wurde eiskalt. Tiermörderin? Was für eine Scheiße war das denn?
Erst jetzt bemerkte sie, dass seit gestern Abend bereits zwölf weitere SMS mit ähnlich widerlichem Inhalt eingegangen waren. »Wir machen dich kalt«, stand da zu lesen, »Du widerliche Kreatur sollst sterben«, in einer anderen. Flora hätte das Handy am liebsten fortgeworfen. Sie rappelte sich aus ihrem Bett hoch und lief hinunter in die Küche.
»Morgen, princesa«, begrüßte ihr Vater sie, der bereits seinen Kaffee trank. Die letzten Tage hatte sie ihn nicht gesehen, da er morgens früher als sonst aufgebrochen und abends sehr spät heimgekommen war. Eine von seiner Abteilung organisierte Konferenz hielt ihn so auf Trab. Wortlos hielt sie ihm das Handy vors Gesicht. Stirnrunzelnd las er.
»Was soll das?«, fragte er und wurde blass. »Flora, bitte, was geht denn hier vor sich – was ist denn jetzt schon wieder los?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie. Sie hatte das Gefühl, sie würde gleich komplett verstummen, und zwar für immer. Dabei war ihr zum Schreien zumute. Ihr Vater klickte sich durch die SMS und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Wir müssen damit zur Polizei gehen, das kann doch nicht wahr sein. Worauf spielen diese Leute denn überhaupt an – Tiermörderin? Das ist doch absurd.«
»Die Polizei wird sicher wieder sagen, ich schicke mir diese SMS selbst – oder irgendwelche Marsmännchen machen das. Die glauben, ich inszeniere all das nur, damit ich zurück nach Brasilien gehen darf.«
»Wie bitte?«
»Doch, echt, ich war noch mal bei denen. Die glauben mir kein Wort.«
»Na ja.« Theo wiegte zweifelnd den Kopf. »Diese SMS hier, die muss man doch nachverfolgen können.«
»Wie denn? Kommen alle von unbekannten Absendern.«
»Schatz.« Theo zog seine Tochter fest an sich. »Ich kümmere mich drum. Versprochen.« Flora wusste, was nun kommen würde. Und es kam postwendend.
»Aber, ich muss dringend los – heute kommt der alleroberste Big Boss und wir müssen noch… Hey, nicht weinen – ich verspreche dir, wir kriegen diese widerlichen Kerle! Ich sag gleich Mama Bescheid.« Flora wusste, dass kein Satz irgendeine Konsequenz haben würde – schließlich ging es um seinen Job. Da konnte er sich nicht mit Klein-Mädchen-Quatsch aufhalten. Sie lief hinter ihm her und sah wortlos zu, wie er durch leichten Nieselregen zur Garage sprintete. Doch bevor er den Schlüssel ins
Weitere Kostenlose Bücher